Ein trauriges Kapitel der Steyrer Stadtgeschichte
mit glücklichem Ausgang
berichtet von Hans Stögmüller
In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann der „Kampf“ um den Steyrer Wehrgraben, der sich bis in die achtziger Jahre hinzog und mit der Errettung des historischen Stadtteiles endete. Viele Aktivisten beteiligten sich am Widerstand gegen das Zuschütten eines heute denkmalgeschützten Wasserlauf, darunter auch der Autor, der sich der Bewegung „Rettet den Wehrgraben“ angeschlossen hatte.
Wehrgraben: Das ist zunächst ein Wasserlauf, der sich mehr als eineinhalb Kilometer lang durch Steyr windet. Wehrgraben ist aber auch der Begriff eines relativ großen Stadtteiles, der sich in der Steyr-Niederung ausbreitet, eingesäumt von den Uferbegleit-Terrassen, die sich zum Dachsberg und zum Tabor, im Süden zum Schloss Engelsegg, zum Schloss Vogelsang und zum Schloss Lamberg erheben.
In diesem Bericht geht es in erster Linie ums Wasser, aber im weiteren Sinne auch um den Stadtteil, denn ein Wehrgraben ohne Wasser würde nicht nur sinnentleert sein, sondern es wäre dann auch das Viertel seiner Identität beraubt.
Genau das hatten unsere Stadtväter (und die wenigen -mütter) vor, als sie beschlossen, den Wehrgraben zu kaufen, zu verrohren und anschließend zuzuschütten. Das konnte schließlich doch nicht gelingen, denn eine wachsame Gruppe von Steyrern, verstärkt durch Mitstreiter aus dem ganzen Bundesgebiet wussten diesen Anschlag zu verhindern. Heute will man sich an diese Zeit nicht mehr recht erinnern. Niemand würde heute den Vorschlag machen, das Wasser zu eliminieren. Im Gegenteil, man ist stolz auf den Wehrgraben, auf das schöne Museum Arbeitswelt, man steckte Unsummen in die Renovierung der ehemaligen Hack-Werke, um das Forschungsinstitut Fazat in schönem Rahmen unterzubringen. Diese Einstellung ist aber nicht sehr alt. Vor zwanzig, dreißig Jahren bekannten sich nur wenige Steyrer zu dem ehemaligen „Glasscherbenviertel“.
In jeder Stadt entsteht im Lauf ihrer Geschichte ein Slumviertel. Es entsteht durch verschiedene Umstände, durch die Verlagerung des Verkehrs, durch soziale Veränderungen, durch technologische Umwälzungen. Im Wehrgraben war es ähnlich. Das ehemalige Handwerkerviertel mit Mühlen und Hammerschmieden, mit Schleifwerkstätten und Ledermanufakturen wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts völlig umgestaltet. Die Waffenfabrik Josef Werndls breitete sich aus. Ein riesiges Fabriksobjekt nach dem anderen entstand.
Als die Steyr-Werke, zu einem Fahrzeugkonzern mutiert, während des Ersten Weltkrieges verlegt wurden, bildete sich im Wehrgraben ein Vakuum. In einige Hallen zogen andere Betriebe ein, andere wurden in Wohnungen umgebaut. Nach dem Absterben der Nachfolgefirmen machte sich Verfall breit.
Das war die Zeit, als die alten Teilhaber der Wehrgraben-Kommune ihr Wasserrecht und damit die Erhaltungspflicht vom Hals haben wollten. Die sieben Mitglieder, darunter auch die Steyr-Werke, beschlossen in ihrer Generalversammlung vom 28. April 1964 die Liquidierung der Gesellschaft. Die Stadtgemeinde wurde verpflichtet, ein Kanalprojekt anfertigen zu lassen, weil eine Vielzahl von Hauskanälen in den Wehrgraben mündete.
Im Steyrer Rathaus roch man den Braten: Hatte man den Wehrgraben in der Hand, war der Kanalbau ein Kinderspiel. Viel schwieriger wäre es, so wurde argumentiert, den Kanal unter den engen Gassen zu verlegen. Das sei technisch überhaupt unmöglich, hieß es später. Also griff man begeistert zu, als die Wehrgraben-Kommune das Gerinne und weitere Grundstücke mit insgesamt 90.000 Quadratmeter anbot. Der Preis war kulant: 712.000 Schilling.
Dieser Vertrag wurde in der Gemeinderatssitzung vom 17. Februar 1972 in Windeseile beschlossen, obwohl Bürgermeister Josef Fellinger als Antragsteller von einem „Akt historischer Bedeutung“ sprach. Im dazugehörigen Amtsbericht schrieb der spätere Magistratsdirektor Dr. Hans Eder: „Abschließend soll nicht übersehen werden, dass vom Standpunkt der Denkmalpflege und des Ensembleschutzes die Auflassung des Wehrgrabens als Zeugnis der wirtschaftlichen Leistungen früherer Generationen und als reizvoller Akzent eines von Wasserläufen durchzogenen, typisch alten Stadtteiles von Steyr zu bedauern ist, was auch vom Landeskonservator festgestellt wurde.“ So schnell dieser Satz geschrieben war, so schnell war er wieder vergessen.
Es dauerte nicht lange, und es flammte Protest auf gegen die weittragende Entscheidung des Gemeinderates. Es formierte sich eine Jugendgruppe „Wendekreis“, die in einer Diskussion mit Politikern auf den Wert des Gerinnes verwies. Im „Jugendinformationszentrum“ wurde die Forderung nach der Verlegung des Kanals am Ufer des Gerinnes laut.
Unterstützung bekamen die Wehrgrabenschützer durch die Studie „Grundlagen zur Stadterneuerung“, die auf einem Seminar der Technischen Universität Graz unter Dr. Heiner Hierzegger basierte. Darin hieß es: „Besondere Beachtung sollte der Erhaltung der Wasserläufe geschenkt werden. Ist schon der Zusammenfluss der beiden Flüsse Enns und Steyr ein eng mit Bausubstanz und Erscheinung der Stadt verknüpftes Element und außerdem ihr geschichtlicher Ursprung, so hatten die verzweigten Arme der Steyr eine wesentliche Bedeutung für die Entwicklung der Stadt.
Diese bis ins Mittelalter zurückreichende Anlage ist ein kompliziertes System von Aufstauung und abzweigenden Armen. Sie dokumentiert den Erfindergeist und die technische Begabung, die die Bürger dieser Stadt seit Jahrhunderten auszeichnet. Natürliche Kräfte wurden hier gebändigt und dem Menschen nutzbar gemacht. Gibt die Schönheit der Häuser in den Altstadtbereichen Zeugnis von Bürgerstolz und Kaufmannsgeist, so liegen in dieser wassertechnischen Anlage die Wurzeln des Beitrags der Werktätigen.
Von den energieerzeugenden Wasserläufen der Steyr und den sie begleitenden Wasserbauwerken wie auch historischen Werksanlagen führt ein direkter Weg zu den heutigen Anlagen der Steyr-Werke. Beide sind die Zeugnisse von Leistung und Einfallsreichtum, von Fleiß und Tüchtigkeit – beide sind Dokumente der Arbeit, der Eisenverarbeitung und amit der wirtschaftlichen Grundlage der Stadt. Eine Prüfung der Erhaltungsmöglichkeit dieser Anlage sollte daher vorurteilslos in Angriff genommen werden. Wasserläufe und Grünanlage bestimmen in hohem Maße Kleinklima, Luftqualität und Freizeitwert einer Stadt. Diese Bestände, über die Steyr in so reicher und qualitätsvoller Weise verfügt, sind zu sichern und womöglich zu erweitern.“ Diese Bemerkungen waren so gut wie in den Wind geschrieben, wie sich noch herausstellen sollte..
Angeregt durch das bundesweit gefeierte Jubiläum „1000 Jahre Österreich“ veranstaltete auch das Steyrer Bundesgymnasium Werndlpark eine Festwoche. Neben einer Diskussion mit den Stadtvätern über Umweltschutz und Stadtbildpflege wurde unter Leitung des Kunsterziehers, Professor Heribert Mader, eine Säuberungsaktion des Wehrgrabens unternommen, bei der 400 Schüler mehrere Tonnen Gerümpel aus dem Flussbett holten. Der ORF berichtete kritisch über den Verfall der Häuser. Das Publikum konnte während der Sendung Stellung nehmen. Der Wehrgraben rückte ins Bewusstsein der Bevölkerung.
Inzwischen war es 1977 geworden. Die Politik erkannte das im Wehrgraben schlummernde Potential. Das Wissenschaftsministerium leitete die Voruntersuchung für einen Forschungsauftrag ein. Aber auch die Vereine blieben nicht untätig. Im Oktober veranstaltete der Round Table Club eine Fotoausstellung über den Wehrgraben, um die Diskussion über dieses Viertel wieder in Gang zu bringen. Gleichzeitig sandte der Club einen Brief an Frau Minister Firnberg, um sie bei der Erhaltung der Wasserläufe um Hilfe zu bitten.
Noch im gleichen Jahr ergriff der Round Table Club wieder die Initiative und regte den Vorstand des Institutes für Wasserwirtschaft, Hydrologie und allgemeinen Wasserbau der Universität für Bodenkultur in Wien, Prof. Dr. Siegfried Radler an, ein Gutachten in Form einer Diplomarbeit über Zustand und Erhaltungsmöglichkeiten der Wehranlagen und der gesamten Gerinne anfertigen zu lassen. 1979 lag die von Willibald Bruckner verfasste Arbeit „Die Wasserwirtschaft am Wehrgraben in Steyr“ vor.
Das Projekt Wehrgraben stellte sich im Lauf der Arbeit als so umfangreich heraus, dass es den Rahmen der Diplomarbeit gesprengt hätte. Es wurde ein neuerliches Seminar veranstaltet und eine Untersuchung über die Möglichkeiten der Gestaltung erarbeitet.
Anfang 1980 erschien die im Auftrag des Wissenschaftsministeriums erarbeitete Studie der Architekten Dr. Othmar Sackmauer und Dr. Klaus Semsroht „ Ein Stadtteilerneuerungsplan für den Wehrgraben in Steyr“ in Form zweier dicker Bände. Die sozialistische Fraktion brachte in der Sitzung des Gemeinderates vom 13. März 1980 einen Dringlichkeitsantrag ein, das Ergebnis des Forschungsauftrages möglichst umgehend dem Gemeinderat zur Kenntnis zu bringen und die Assanierung des Wehrgrabens zu beginnen. Der Antrag wurde einstimmig angenommen.
Der Gemeinderat wurde nicht „dringlich“ mit der Studie befasst – schließlich war der Terminkalender mit den Feiern des Stadtjubiläums „1000 Jahre Steyr“ vollgestopft. Als jedoch im September 1980 bekannt wurde, dass die wasserrechtliche Genehmigung für die Verrohrung des Wehrgrabens bis Jahresende ablaufen würde, flammte die Diskussion wieder auf. Flugs wurde im Rathaus-Pressedienst versichert, dass eine Entscheidung erst fallen werde, wenn eine Kostenschätzung vorliegt. Außerdem wurde eine Aussprache des Gemeinderates mit den Verfassern der Wehrgraben-Studie anberaumt.
Nun gab es auch wieder Druck von der „Basis“. Mitglieder des im Wehrgraben angesiedelten Vereines Basiskultur starteten eine Unterschriftenaktion, bei der gefordert wurde, den Beschluss des Gemeinderates aus 1972 zu revidieren und einen neuen Beschluss zu fassen, der die Stadtverwaltung daran bindet, die Gerinne des Wehrgrabens zu erhalten. In Diskussion mit der Bevölkerung sollte ein Revitalisierungskonzept erarbeitet werden.
Die Frist bis Fertigstellung des Kanalbaues wurde schließlich bis 1985 verlängert. Der Wasserwirtschaftsfonds sicherte dem Reinhalteverband Steyr und Umgebung für den Zeitraum bis 1985 ein Darlehen von 85 Millionen Schilling für mehrere Kanalbauten, unter anderem auch im Wehrgraben, zu.
Beim Neujahrsempfang meinte Bürgermeister Franz Weiss zum Thema Wehrgraben: „Es wird nicht zu vermeiden sein, in alte Traditionen einzugreifen, wie es auch schon vor hundert Jahren der Fall war, denn hätte Josef Werndl kapituliert, wäre er nicht der Pionier von Steyr geworden und gäbe es keine Steyr-Werke.“ Mit anderen Worten: Fort mit dem alten Krempel, weg mit dem Wasser, denn nur der Fortschritt macht glücklich.
Die Gemeinderäte wurden am 22. Jänner 1981 über die Wehrgrabenstudie informiert. Sackmauer und Semsroth hatten in einer Zusammenfassung geschrieben: „Die Verfasser sind der Ansicht, dass vor allem der östliche Bereich des Wehrgrabens das Stadtbild von Steyr so entscheidend prägt, dass das Gebiet in seiner kleinteiligen, reizvollen Struktur ein unwiederbringliches städtebauliches Kleinod darstellt. Die räumlichen Ansprüche der notwendigen Siedlungsentwicklung sollten so aufeinander abgestimmt sein, dass einerseits kein ökologischer Schaden entsteht, andererseits aber auch die Wirkung der typischen Aulandschaft und der Kanalstruktur nicht verlorengeht, sondern eher noch gesteigert wird.
Daher sollte auch der wichtige Bezug zwischen Wehrwasser und Bebauung gewahrt bleiben. Jede diesbezügliche Beeinträchtigung würde die Zerstörung des Stadtbereiches als gebauter Raum zur Folge habe, als Identifikationselement der Stadt also verloren gehen. Dieser Bereich stellt somit ein sehr sensibles Gefüge dar, weshalb jede Maßnahme einer eingehenden Prüfung zu unterziehen wäre. Die Wehranlagen sind integrierte Bestandteile des Wehrgrabens. Ihr teilweise schlechter Zustand würde Neubauten notwendig machen, wobei aber darauf zu achten wäre, dass der Charakter der Wehranlagen erhalten bleibt. Das Wehrwasser sollte für den Wehrgraben erhalten bleiben, da es zur Identifikation des Gebietes gehört und der Verlust dieses Wassers gleichzusetzen wäre mit dem Verlust eines besonderen Merkmales dieser Stadt“.
In der Informationssitzung kündigte Bürgermeister Franz Weiss auch an, dass ein „Gegengutachten“ von einem Steyrer Architektenduo erstellt werden solle. Jeder Insider wusste, um wen es sich dabei nur handeln konnte. Außerdem wurde eine vom Stadtbauamt ausgearbeitete Kostenschätzung vorgelegt, wonach der Kanalbau mit Zuschütten 30 bis 40 Millionen und der Kanalbau mit Erhaltung des Grabens 60 bis 70 Millionen Schilling kosten würde.
Immer mehr Künstler nahmen sich des Wehrgrabens an. Im Februar 1981 stellte Friedrich Gradisnik Bleistiftzeichnungen und Schichtenpastelle im Bummerlhaus aus. Dazu erschien im Verlag Ennsthaler von ihm ein Grafikband, der mit Gedichten von Hans Dieter Mairinger ergänzt wurde.
Bei der ersten öffentlichen Diskussion über das Problem Wehrgraben im Steyrer Gemeinderat zeigte sich am 19. Februar eine Verhärtung der Fronten. Während die SP-Mehrheit für das Zuschütten des Gerinnes eintrat, stemmten sich die drei Fraktionen der Opposition vehement gegen diesen Plan.
Für viele Steyrer überraschend wurde Anfang März 1981die Bürgerinitiative „Wohnenswerter Wehrgraben“ unter der Patenschaft der FPÖ Steyr gegründet. In einer Presseaussendung wurde darauf hingewiesen, dass der Wehrgraben in den vergangenen Jahrzehnten bei allen erneuernden Maßnahmen der Stadt übergangen und vergessen worden war, was dazu geführt habe, dass viele Menschen den Stadtteil verließen. Eine Veränderung des Grundwasserspiegels (bei Zuschütten des Gerinnes) würde viele mittelalterliche Häuser in Gefahr bringen, da diese auf Holzpiloten gebaut sind.
Am 17. März, zwei Tage vor der Sondersitzung des Gemeinderates, machte sich die VP für das OKA-Projekt stark, das vorsah, an der Steyr zwei Kleinkraftwerke zu errichten. Dadurch könnte der Wehrgraben erhalten werden, wurde argumentiert, doch verschwiegen, dass durch die Ausleitung zu wenig Wasser für den Graben überbliebe.
In der Sondersitzung, die bis spät in die Nacht dauerte, stellte die SP-Fraktion den Antrag, die Kanalverlegung im Gerinne vorläufig noch nicht durchzuführen, verlangte aber von der VP die Bereitstellung rechtlich verbindlicher Unterlagen zum Alternativprojekt der OKA.
Ende März verkündete die Bürgerinitiative, dass sie bereits 3000 Unterschriften gesammelt habe. Die VP brachte wegen Nichtbehandlung ihres Antrages, über die Wehrgraben-Problematik eine Volksbefragung zu veranstalten, eine Aufsichtsbeschwerde gegen Bürgermeister Weiss ein. Diese Beschwerde wurde später als unbegründet abgewiesen.
In einer Diplomarbeit am Institut für Wasserwirtschaft der Universität für Bodenkultur untersuchte der Wiener Student Herbert Mascha die wasserwirtschaftlichen Probleme der Flusslandschaft in Steyr und stellte eine neue Trasse für den Kanalsammler vor, die das Wehrgrabengerinne retten könnte. Die Stadtväter nahmen davon wenig Notiz.
Den ganzen Herbst und Winter über gab es Stellungnahmen und Briefe verschiedener Organisationen. Im Februar 1982 ließ Bürgermeister Weiss die Katze aus dem Sack: Der Architekten-Wettbewerb, der von März bis Ende Mai laufen sollte, enthielt die Klausel, dass bei der Planung von der Voraussetzung des zugeschütteten Grabens auszugehen sei. In der Sitzung des Gemeinderates vom 16. Februar verteufelten die Sprecher der VP- und FP-Fraktion diese Vorgabe, die die Ideenfreiheit der Architekten einschränkte. Die Kosten des Wettbewerbs beliefen sich auf 1,2 Millionen Schilling. Die VP-Fraktion im Stadtsenat lehnte die Dotierung ab.
Vor der nicht öffentlichen Informationssitzung des Gemeinderates am 2. März 1982 wurde die Kostenstudie des Büros Flögl bekannt. Die Baukosten des Kanals betragen bei Offenhalten 64 und bei Zuschütten 36 Millionen, wobei die Arbeiten für die Rohrverlegung selbst nur um eine Million Schilling differierten. Unfairerweise wurde aber auch eine Abschreibung, die bei Kommunalbauten nicht üblich ist, und die Kapitalisierung der Beträge eingerechnet, wodurch die Koten auf 95 bzw. 46 Millionen Schilling anstiegen.
Um sämtliche Streiter für den Wehrgraben zu vereinen, bildete sich über Initiative der beiden Serviceclubs Round Table und Club 41 am 8. März ein Proponenten-Komitee aus zwölf Vereinen und Organisationen, das später den Verein „Rettet den Wehrgraben“ gründete. Gleich in der ersten Versammlung wurde eine Vielzahl von Aktionen geplant.
In einem Brief an den Steyrer Bürgermeister, den Gemeinderat und die Ingenieurkammer forderten der Präsident des Österreichischen Kunstsenats, Prof. Roland Rainer, und sämtliche Professoren für Architektur die Rücksicht auf das historische Stadtbild durch volle Erhaltung des Wehrgrabens und die sofortige Abänderung der Wettbewerbsausschreibung, die die Zerstörung des Ortscharakters von Steyr durch Zuschütten eines 600 Jahre alten Gerinnes voraussetzt.
Verhüllt in einen „Wehrgraben-Erneuerungskatalog“ mit einigen Zuckerl für die Bewohner beschloss die SP-Mehrheit in der Sitzung des Gemeinderates vom 1. April das Zuschütten des Gerinnes. Die Sprecher der anderen Fraktionen waren dagegen und meinen, dass die versprochenen Tennisplätze, Schrebergärten und Zuschüsse für Hausreparaturen auch ohne Zerstören des Gerinnes möglich sein müssten.
Nach diesem überraschend schnellen Beschluss trat wenige Tage später das Bundesdenkmalamt auf den Plan. Es stellte fest, dass der Wehrgrabenkanal ein menschliches Bauwerk sei und als Besitz der Stadt Steyr automatisch unter Denkmalschutz stehe.
Bürgermeister Weiss blieb es vorbehalten, die demokratische Diskussion, in die sich bereits Fachleute aus ganz Österreich eingeschaltet hatten, als „Affentheater“ abzuqualifizieren. Als Obmann des Reinhaltungsverbandes schrieb er Mitte April die Arbeiten zum Kanalbau Wehrgraben aus, obwohl die Verhandlungen mit dem Bundesdenkmalamt erst Ende dieses Monat anberaumt waren.
Der neue Fremdenverkehrsprospekt der Stadt Steyr sollte mit dem Loblied auf den Wehrgraben doch Recht behalten. Darin heißt es: „Rechts im Bild ein besonders reizvolles Detail der Altstadt am Wehrgrabenkanal, eines künstlichen Gewässers, das jahrhundertelang die vielen Hämmer der Eisen verarbeitenden Handwerksbetriebe bewegte“. Neben einem zweiten Farbbild steht: „Steilgiebelige Häuser und verwitterte Hütten hocken in langer Reihe dicht am 500 Jahre alten Wehrgrabenkanal und träumen unter der Schneedecke vom Klang der Schmiedehämmer vergangener Zeiten“.
In einer Presseaussendung wies die VP-Fraktion auf ein erschreckendes Detail im Zusammenhang mit dem geplanten Kanalbau hin: Vor dem Bauensemble „Bürgerspital“, das mit seinem Felsabfall zur Steyr eine der markantesten und schönsten Stadtansichten darstellt, sollte eine fahrbahnbreite und mehrere Meter hohe Aufschüttung in den Fluss hinein vorgenommen werden. Dies hätte die Zerstörung eines Stadtmotives bedeutet, so die VP, die nie wieder gutzumachen wäre. Deshalb wurde gefordert, das Kanalprojekt umzuplanen und eine Tunnellösung zu überlegen.
Nach einer mehrwöchigen Anlaufphase wurde am 15. April 1982 der Verein „Rettet den Wehrgraben“ offiziell gegründet. Um die Forderung nach einer menschengerechten Neubelegung des Stadtteiles durchzusetzen, wurde eine Reihe von Aktionen – von Podiumsdiskussionen bis zum Wehrgrabenfest – durchgeführt. Plakate, Flugblätter und Aufkleber waren in Umlauf. Der einstimmig zum Obmann gewählte Kunsterzieher Heribert Mader kündigte die erste große Mitgliederversammlung für 26. April an. Als Referent wurde der Architekt Prof. Roland Rainer gewonnen, der sich als Präsident des Kunstsenats bereits vehement für die Erhaltung des Gerinnes eingesetzt hatte.
In der Veranstaltung wies Rainer auf die Gefahr der Bodenspekulation hin, die er damit untermauerte, dass die Stadt etwa 90.000 Quadratmeter Grund um 712.000 Schilling von der Wehrgraben-Kommune gekauft hatte. Ehemalige Kommune-Mitglieder hätten ein Vorkaufsrecht. Sie könnten das Areal als Bauland teuer weiterverkaufen.
Anfang Mai machte Bürgermeister Franz Weiss einen Rückzieher: Den Architekten, die sich am Ideenwettbewerb Wehrgraben beteiligt hatten, ging ein Schreiben zu, durch das ihnen vom Magistrat mitgeteilt wurde, dass die Stadt den Wettbewerb unterbreche, bis die Frage mit dem Denkmalschutz geklärt sei.
Die Oberösterreichischen Nachrichten berichteten, dass schon 1966 der Denkmalschutz ein Veto gegen die Auffüllung des Wehrgrabens eingelegt hatte. Es wurde ein Bericht zitiert, in dem es hieß: „Das Denkmalamt hat aber gegen all diese Vorhaben Einspruch erhoben. Begründung: Der Wehrgraben ist eine Energiequelle alten Gewerbes seit Jahrhunderten gewesen und ist aus dem Stadtbild nicht wegzudenken“.
In einer IMAS-Umfrage wurde erhoben, dass 66 Prozent der Steyrer sich gegen die Zerstörung des Wehrgrabens wehrten, weil sie meinten, Steyr werde dadurch einen Teil seines typischen alten Stadtbildes verlieren. 18 Prozent traten für das Zuschütten ein und 16 Prozent waren unentschlossen. Die Wehrgrabenfans kamen aus allen Parteien: 61 Prozent von 100 SP-Wählern und 79 von 100 VP-Wählern hielten nichts vom Zuschütten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte die Stadtführung nachdenklich werden sollen, doch es dauerte noch einige Zeit, bis endlich begriffen wurde, was auf dem Spiel steht.
Bürgermeister Weiss erreichte schließlich von Frau Minister Firnberg die Zusage, dass das Wissenschaftsministerium über einen Zeitraum von zehn Jahren jährlich je eine Million Schilling für die Revitalisierung des Wehrgrabens bereitstelle. Auch Landeshauptmann Josef Ratzenböck bekundete in einem Brief an Weiss seine Bereitschaft zur finanziellen Unterstützung.
Ende Mai 1982 lenkte die Rathausmehrheit bei der Frage ein, wie der künftige Kanalsammler nach Einmündung des Wehrgrabengerinnes weitergeführt werden sollte. Der Stadtsenat vergab die Projektierungsarbeiten für eine Variantenuntersuchung im Bereich des Bürgerspitals.
In einer Podiumsdiskussion am 2. Juni mit Prof. Rainer, Doz. Sackmauer, Doz. Semsroth, Arch. Hierzegger und Prof. Kühnel wurde eine Resolution an Bürgermeister Weiss beschlossen, in der gefordert wurde, alle Maßnahmen, die die Zerstörung des Wehrgrabens vorbereiten, sofort einzustellen, sämtliche Beschlüsse des Gemeinderates auf Zuschütten des Wehrgrabens sofort aufzuheben und das Wehrwasser samt dem Überwasser uneingeschränkt zu erhalten. Weitere Forderungen betrafen die Architektur, Ansiedlung von Handwerksbetrieben und Wiederherstellung von Häusern.
Am 6. Juni wurden in den Galerien Schnittpunkt und Siebenstern Ausstellungen von Fotos, Grafiken und Objekten zum Thema Wehrgraben eröffnet. Gleichzeitig begann das „1. Steyrer Werndl-Fest“ im Eysnfeld, dem am folgenden Wochenende das „Wehrgrabenfest“ im und um das Vereinslokal der Gruppe Basiskultur an der Wehrgrabengasse (heute Gasthaus Knapp am Eck) folgte.
Wurde bis dahin hinter vorgehaltener Hand immer von einem „Kompromiss“ bezüglich des Wehrwassers gesprochen, gab es anlässlich des Besuches des Denkmalsschutz-Präsidenten Thalhammer am 25. Juni 1982 in Steyr eine perfekte Überraschung: Bürgermeister Franz Weiss vollzog einen politischen Salto und rief sich selbst als Wehrgrabenretter aus. Jedenfalls rang er sich zu der Feststellung durch, dass das Wasser erhalten bleibe.
Ausschlaggebend war das Machtwort des Bundesdenkmalamtes, das den Bereich Innerer Wehrgraben-Steyrdorf als ältesten Teil der Stadt unbedingt erhaltenswürdig bezeichnete. Staatssekretärin Eypeltauer erklärte bei einem Besuch, sie wolle günstige Darlehen für Maßnahmen der Stadterneuerung zur Verfügung stellen.
Der Verein „Rettet den Wehrgraben“ brach wegen der erreichten Rettung des Gerinnes keinesfalls in einen Siegestaumel aus. Vielmehr machten sich die Mitglieder Gedanken, wie man mithelfen könne, das Gebiet zu sanieren. Dem neuen Bürgermeister Heinrich Schwarz wurde die Mithilfe angeboten. Auf Vereinskosten und mit einem Zuschuss der Gemeinde wurden an allen historischen Gebäuden Schilder mit Angaben der historischen Bedeutung angebracht und ein Industrie-Lehrpfad ausgesteckt, der zusammen mit der Landesaustellung im ausgezeichnet restaurierten Museum Arbeitswelt 1987 eröffnet wurde. Die Ausstellung war äußerst gut besucht. Alle Gäste bewunderten den wiedererstandenen Stadtteil, in dem laufend Häuser renoviert und Wohnungen geschaffen wurden.
Inzwischen sind auch die Stadtväter und -mütter recht stolz auf ihren Wehrgraben. Die Auseinandersetzungen sind vergessen. Niemand könnte sich heute vorstellen, dass es einen Wehrgraben ohne Wasser geben könnte. Vergessen ist allerdings auch der Hauptinitiator der Rettung, nämlich Professor Heribert Mader. Ehrungen gab es inzwischen für viele bedeutende Persönlichkeiten Steyrs, aber Mader war nicht darunter. Das zehnjährige „Jubiläum“ des Sieges der Denkmalschützer über die Zuschütter ging bereits vorüber. Aber vielleicht gelingt es, bis zur nächsten runden Jahreszahl, sich beim Retter des Wehrgrabens gebührend zu bedanken.