Steyr nach dem zweiten Weltkrieg

Von Erlefried Krobath

 

Obgleich Steyr im zweiten Weltkrieg von direkten Kampfhandlungen verschont blieb, erlitt es doch durch die im Jahr 1944 einsetzenden amerikanischen Luftangriffe bedeutende Verluste an Menschenleben und musste große Materialschäden hinnehmen. Den schwersten Bombenangriffen war die Stadt am 23. und 24. Februar 1944, sowie am 2. April 1944 ausgesetzt.1) Die Tage des Dritten Reiches waren gezählt. Am 27. April 1945 war in Wien schon eine provisorische österreichische Regierung gebildet worden.

In Steyr berieten sich am frühen Vormittag des 2. Mai führende Funktionäre der NSDAP, unter Vorsitz des Kreisleiters, mit Offizieren der Garnison, um zu erörtern, ob man die Stadt beim Heranrücken der alliierten Truppen verteidigen solle oder nicht. Man kam zum Schluss keinen Widerstand zu leisten und die bereits an den Stadtbrücken angebrachten Sprengladungen entfernen zu lassen. Anschließend an diese Besprechung erfolgte eine weitere Konferenz eines Teiles der Parteifunktionäre, die mit diesem Beschluss nicht einverstanden waren. An dieser nahmen keine offiziellen Vertreter der Wehrmacht teil, doch wurden zwei Offiziere beigezogen. Diesmal wurde endgültig beschlossen, die Sprengladungen an den Brücken nicht entfernen zu lassen und diese, bei drohendem Heranrücken der Gegner, zu sprengen. Steyr sollte mit dem in der Artilleriekaserne befindlichen Militär und dem am 4. Mai aus Steyr nach Molln verlegten und am folgenden Tag wieder nach der Eisenstadt in Marsch gesetzten Grenadier-Ersatz- und Ausbildungsbataillon II/130 verteidigt werden.2) Inzwischen war der Kampfkommandant der Stadt abgerückt. Der Wehrbezirkskommandeur, Oberst Lechner, übernahm nun das Kommando über die Stadt. Als neuer Befehlshaber verfügte er die Entfernung der Sprengladungen an den Brücken und verbot militärischen Widerstand.3) Ehe jedoch diese Befehle zur Durchführung kamen, erschien Gauleiter Eigruber in der Stadt, hielt in der Bibliothek des Schlosses Lamberg in Gegenwart der politischen Leiter und der Kommandanten der Einheiten des Volkssturms über den Rundfunk eine Ansprache an die oberösterreichische Bevölkerung, in der er sie zum Ausharren aufforderte. Hierauf setzte er seine Flucht ins Ennstal fort. Er lud auch den Steyrer Oberbürgermeister Ransmayr ein, ihn zu begleiten, doch dieser erklärte, er sei alt und krank und habe auch niemand ein Leid zugefügt, er wolle in Steyr bleiben.

Beim Näherkommen der Amerikaner zogen sich die in der Stadt noch vorhandenen Truppen der deutschen Wehrmacht, wie die Flakeinheiten auf der Ennsleite und die im Reithofferlager stationierten Angehörigen der SS, kampflos zurück. Der Befehlshaber Der SS-Abteilung erschoss sich.

Für die Verteidigung waren im engeren Stadtgebiet 50 Panzersperren und Torsperren in den Häusern am Ennskai, beim Schloss Lamberg und in der oberen Ölberggasse errichtet worden. Am Tabor und im Karolinental hatte man Bunkergruben oder Schützengräben angelegt. Als Hauptstützpunkt war das Schloss vorgesehen, in dessen Graben ein Granatwerfer aufgestellt wurde. Die Gegend von Waldneukirchen (Hörmühle) und Aschach an der Steyr wurde als Vorfeld bei einem eventuellen Kampf um Steyr betrachtet; Steyrer Volkssturmeinheiten wurden zur Verteidigung dorthin dirigiert. Als eine Einheit des Volkssturmes in südwestlicher Richtung auf Pichlern an der Steyr marschierte, wurde sie von den bereits anrückenden Amerikanern in Empfang genommen, entwaffnet und nachhause geschickt.

Schon am 5. Mai um 10 Uhr vormittags rollten aus westlicher Richtung kommend, gepanzerte Schützenwagen und Panzer der 2. amerikanischen Armoured Division auf der Bundesstraße am Landeskrankenhaus vorbei, in Steyr ein. Die Übergabe der Stadt an einen amerikanischen Offizier erfolgte anschließend durch Oberbürgermeister Ransmayr in der Sierninger Straße.

In den Häusern Michaelerplatz 13 und 14 errichteten die Amerikaner sofort Maschinengewehrstände, von denen aus sie die Steyrbrücke und ihre Zugangswege beherrschten, weiters beschlagnahmten sie das Hotel Minichmayr (Haratzmüllerstraße 1) zu Unterkunftszwecken. In rascher Folge wurden die Steyrwerke und das Rathaus, als Mittelpunkt des Verwaltungslebens, besetzt. Um den Truppen Quartiere zu sichern, wurden zahlreiche private und öffentliche Unterkünfte beschlagnahmt, wobei die Inhaber von Wohnungen ihr Hab und Gut belassen mussten. Das Truppenkommando bezog im Hotel Steyrerhof (Stadtplatz 31) Quartier, die militärischen Dienst- und Verwaltungsstellen fanden im Kreisgericht (Stadtplatz 15) Unterkunft. Als weitere Maßnahmen wurde von den Amerikanern ein vollkommenes Ausgehverbot für die Zivilbevölkerung verhängt, das bis Montag, den 7. Mai, andauerte. In der Folgezeit durfte sich die Bevölkerung auf die Dauer von zwei Wochen nur innerhalb gewisser Stadtzonen, vormittags in der Zeit von 9 bis 12 Uhr und nachmittags von 2 bis 4 Uhr, auf die Straßen begeben, um die notwendigsten Besorgungen des täglichen Lebens durchführen zu können.

Noch am Tag des Einmarsches der Amerikaner trafen sich Vertreter der demokratischen Parteien der Vorkriegszeit im Rathaus und hielten eine Sitzung ab, um, im Einvernehmen mit einem hierzu abgeordneten amerikanischen Oberstleutnant, ein neues Stadtoberhaupt und eine Verwaltung einzusetzen, die bis zu einer künftigen Wahl die Geschäfte führen sollte. Franz Prokesch4) wurde zum vorläufigen Bürgermeister und Ferdinand Knabl zu dessen Stellvertreter bestellt.

Der bisherige Oberbürgermeister Ransmayr wurde noch am 5. Mai in seiner Wohnung festgenommen, auf die Kühlerhaube eines amerikanischen Jeeps (Truppenfahrzeuges) gesetzt und in den Dachboden des Hauses Schlüsselhofgasse 31 (Schönauervilla) eingesperrt, ohne jedoch bewacht zu werden. Am folgenden Tag, dem 6. Mai, brachten amerikanische Militärpolizisten Ransmayr wieder ins Rathaus, wo er im Vorraum des Bürgermeisterzimmers bis 1 Uhr mittags warten musste, ohne jedoch einvernommen zu werden. Schließlich wurde er vom neuen Bürgermeister Prokesch nachhause geschickt. Später wurde Ransmayr, als politischer Leiter der NSDAP, in das Gefangenenhaus Berggasse überstellt und anschließend in ein Anhaltelager für Nationalsozialisten in Glasenbach bei Salzburg gebracht. Mit den amerikanischen Truppen war eine Gruppe des Counter Intelligence Corps in Steyr eingerückt, die in der Bibliothek des Schlosses Lamberg Quartier bezog. Diesem Detachement oblag die Anhaltung ehemaliger politisch hervorgetretener Nationalsozialisten und ihre Entfernung aus öffentlichen Ämtern. Vom CIC wurde später auch festgesetzt, welche Beamte des Rathauses politisch tragbar wären und in der Stadtgemeinde weiter ihren Dienst versehen könnten; eine Reihe anderer wurde vorläufig außer Dienst gesetzt. Als Magistratsdirektor wurde der während der Februarunruhen 1934 zwangsweise pensionierte Dr. Ferdinand Häuslmayr wiedereingestellt.

Am 10. Mai richteten die Amerikaner im Rathaus, neben der bestehenden provisorischen Zivilverwaltung, eine Militärverwaltung („American Military Government“) ein, die bis 31. März 1946 amtierte. Als erster „governor“ fungierte ein Major Lang, dem ein Sicherheitsoffizier (Captain Fiorella) und ein für die Ernährung Zuständiger (Captain Chapman) zur Seite stand. Der Militärgouverneur residierte im heutigen Zimmer des Bürgermeisters. Die Besetzung dieser Posten wechselte mit der Ablösung der jeweilig in der Stadt stationierten Truppe.

Nach der Wahl des Jahres 1945 sanktionierte der Gemeinderat in seiner konstituierenden Sitzung am 14. September 1945 nachträglich alle von Bürgermeister Prokesch in der Zeit vom 7. Mai bis 14. September 1945 getroffenen Verfügungen, Anordnungen, Entscheidungen personeller und sachlicher Art, die nach den Bestimmungen des ehemaligen Gemeindestatutes (Landesgesetz und Verordnungsblatt 13 ex 1930) in die Kompetenz des Stadtrates oder Gemeinderates gehört hätten.

Vorausabteilungen der 3. Ukrainischen Sowjetarmee trafen mit ihren Panzern vor der Ennsbrücke am 8. Mai um 16 Uhr ein. Diese und das am 9. Mai folgende Gros besetzten, nach einer auf höherer politischen Ebene getroffenen Vereinbarung, Steyr bis zum rechten Ennsufer. Die amerikanischen Soldaten zogen sich auf das linke Ennsufer zurück. An den Stadtbrücken wurden nach einiger Zeit Sperren errichtet, das Neutor wurde von den Amerikanern mit Pflastersteinen verrammelt. Damit war die Stadt in zwei annähernd gleiche Teile geschieden und jeder Verkehr unterbunden. Eine russische Kommandantur wurde im Haus Bahnhofstraße 18 errichtet.

Die systematische Entwicklung der Stadt innerhalb des Mündungsraumes von Enns und Steyr hat es mit sich gebracht, dass sich fast alle wichtigen Versorgungsbetriebe und die Verwaltungsbehörden in dem von den Amerikanern besetzten Westteil befanden. Durch die Teilung der Stadt wurde er von der Hauptbahnlinie vollkommen abgeschnitten, was im Augenblick eine Katastrophe bedeutete. Es mussten daher in Steyr-West alle vorhandenen und noch betriebsfähigen Fahrzeuge jeder Art in Anspruch genommen werden, um die Zufuhr äußerst lebensnotwendiger Güter zu ermöglichen. Die Kapazität der Lokalbahn Garsten — Klaus reichte nur für eine beschränkte Güterzufuhr aus. Ende Mai 1945 betrug in diesem Stadtteil die auf Lebensmittelkarten ausgegebene Wochenration je Kopf der Bevölkerung 500 g Brot, 200 g Mehl, 100 g Fett, 200 g Fleisch, 125 g Zucker, 75 g Trockenerbsen, 25 g Kaffeemittel und 1 Ei. Mit dieser Zuteilung im Nährwert von rund 5.280 Kalorien mussten jene Personen, die keinerlei Möglichkeit hatten sich sonst irgendwie Lebensmittel zu verschaffen, ihr Auskommen finden. In den ersten Julitagen konnte die wöchentliche Brotration auf 850 g gesteigert werden. Das Ernährungsamt Steyr-Ost gab in der zweiten Juliwoche bekannt, dass es die derzeitige Lage am Ernährungssektor gestatte, die wöchentliche Fleischration, die schon einmal um 50 g erhöbt worden war, in der folgenden Woche auf 300 g zu erhöhen. Bei Ausfall der Anlieferungen allerdings, würde es notwendig sein, die Wochenrationen wieder zu kürzen. In derselben Woche konnte auf Abschnitte der Ernährungskarte ein Kilogramm Frühkartoffel und für Kinder und Kranke ein Ei zugeteilt werden. Die Gemüseversorgung war im eigenen Bereich nur zum Teil möglich, doch lag beim Ernährungsamt eine Zusage des Bezirkes Perg vor, dass dieser einen Teil seiner Überschüsse nach Steyr-Ost abgeben wollte.

Von Mai bis Juli 1945 waren auch die im Westteil der Stadt wohnenden Angehörigen der Steyrwerke von ihrer Arbeitsstätte abgeschnitten. Da nur wenige von ihnen über Ersparnisse verfügten, mussten sie aus Mitteln der öffentlichen Fürsorge unterstützt werden.

In dem von den Sowjetrussen besetzten Ostteil befanden sich der Bahnhof mit dem in dessen nächster Umgebung befindlichen Brennstofflager der Stadt und vor allem jene Arbeitsstätte, in der der Großteil der Steyrer Bevölkerung Arbeit und Verdienst fand, die Steyrwerke. Die trostlose wirtschaftliche Lage dieses Stadtteiles schildert sehr treffend ein Bericht: „Am 7. Mai gab es in Steyr-Ost kein Brot, keinen Sack Getreide oder Mehl, … keine Milch und keine Fahrzeuge. Es war eine Sensation, … als zum ersten Mal nach langer Zeit zwei Dekagramm Butter für jedes Kleinkind ausgegeben werden konnten.“ Eingefügt sei hier, dass die Bevölkerung der Stadt, die 1938 rund 39.000 Personen betrug, anfangs 1945 eine Erhöhung auf rund 54.0O0 Köpfe erfahren hatte. In dieser Zahl sind die vielfach in Wohnbaracken und sonstigen behelfsmäßigen Unterkünften untergebracht gewesenen, nicht ortsansässigen Beschäftigten der Steyrwerke, eingerechnet. Im Jahre 1943 arbeiteten allein in den Steyrwerken rund 16.000 Personen, unter ihnen etwa 6.000 Ausländer. Unmittelbar nach Kriegsende wuchs die Bevölkerung der Stadt durch Zuzug von Flüchtlingen, Fremdarbeitern und ehemaligen Insassen von Konzentrationslagern auf rund 70.000 Personen an. Im Westteil der Stadt musste das Ernährungsamt zu den hier Wohnenden auch noch die rund 20.000 von den Amerikanern in Lagern festgehaltenen Kriegsgefangenen des Bezirkes Steyr mitversorgen. Dies machte die Errichtung eines eigenen Lebensmittellagers in diesem Stadtteil notwendig, von dem aus die gesamte Versorgung der Kriegsgefangenen und Flüchtlinge erfolgte.

Unbeschreiblich war die Wohnungsnot in beiden Stadtteilen. Alle Schulen, Lagerbaracken, Gasthöfe, Scheunen und Tennen in Bauerngehöften wurden als Massenquartiere herangezogen. Für die Verwaltungstätigkeit bedeutete es überdies eine besondere Erschwernis, dass über Telegraf und Telefon eine Sperre verfügt wurde, die auch den Verkehr mit den Oberbehörden verzögerte.

In Steyr-Ost wurde im Einvernehmen mit Repräsentanten der Roten Armee der Büchsenmacher Johann Kahlig zum Bürgermeister bestellt und eine provisorische Stadtverwaltung eingerichtet. Dem Gemeinderat gehörten nachstehende Herren, als Vertreter demokratischer Parteien der Vorkriegszeit, an: Karl Bloderer, Karl Hübsch, Vinzenz Ribnitzki, Johann Schanovski, Thomas Trunk und Josef Wöhrer. Bei der konstituierenden Sitzung des im Hause Bahnhofstraße 5 untergebrachten „Gemeindeamtes Steyr, rechts der Enns“ am 6. Juni 1945 verwies Bürgermeister Kahlig auf die Tatsache, dass der Ausbau der neuen Gemeindeverwaltung „aus dem Nichts und vorerst ohne Geldmittel“ erfolgte. Nach Angelobung der neu bestellten Gemeinderäte wurde die Annahme eines vorläufigen neuen Gemeindestatutes, das „demokratischen Geist widerspiegelt“, beschlossen.

Einige Tage später begab sich unter Führung Kahligs eine Abordnung von Gemeinderäten zum damaligen Staatskanzler und späteren Präsidenten der Republik, Dr. Karl Renner, um „über die Zukunft der Stadt und das Schicksal der hart bedrängten Steyrwerke“ einen Gedankenaustausch zu pflegen. Der Staatskanzler versicherte, dass die Staatsregierung alles Mögliche unternehmen werde, um „die Eisenstadt vor dem Verfall zu retten“. Als die Abordnung auf die prekäre Ernährungslage hinwies, versprach Staatssekretär Dr. Schärf sofortige Maßnahmen einzuleiten, um dem schwergeprüften Stadtteil zu helfen. Staatssekretär für Inneres, Honner, war der Ansicht, dass „die Probleme der Stadt im Wesentlichen“ von den Gemeindefunktionären selbst gelöst werden müssten. Er gab sein Einverständnis zur vorläufigen Errichtung einer Gemeindepolizei, der auch die Aufgaben der Gendarmerie zu übertragen waren, bis dieser Sicherheitskörper reorganisiert und eine Bezirkshauptmannschaft errichtet wäre. Über Aufforderung hatten sich die in diesem Stadtteil wohnenden Beamten und öffentlichen Angestellten zu melden. Mit ihnen und den Funktionären wurde eine Reihe notwendiger Behörden errichtet: ein Gemeindepolizeiamt, ein Wohnungsamt, ein Fürsorgeamt und ein Arbeitsamt Ost, das seine Tätigkeit schon im Mai aufgenommen hatte. Mit der Errichtung eines Kreis- und Bezirksgerichtes wurde Dr. Karl Enzelmüller betraut, der auch ehrenhalber die Leitung des Innendienstes im neu errichteten Magistrat Steyr-Ost übernahm. Am 25. Juli wurden in Münichholz zwei Kindergärten eröffnet.

Um die vom Magistrat entlohnten Beschäftigten bezahlen zu können, fehlte Geld. Die Herren Franz Draber und Hans Strauß übernahmen die schwierige Ausgabe, in dunkler Nacht über die Enns zu schwimmen und eine Verbindung mit den Funktionären in Steyr-West herzustellen. „Sie bekamen Geld und durchschwammen noch einmal den Fluss, schlichen sich durch die Postenkette (der Besatzungsmacht) und Steyr-Ost hatte wieder für eine Zeit lang Geld“, wird berichtet.

Steyr-Ost, das, wie die andere Stadthälfte, bisher verwaltungsmäßig zu Oberösterreich gehörte, unterstand nun in Belangen der Verwaltung der niederösterreichischen Landesregierung. Da außer diesem Stadtteil auch der Bezirk Steyr-Land von der zuständigen Bezirkshauptmannschaft abgetrennt war, musste auch hier eine Lösung gefunden werden. Im Einvernehmen mit der Landeshauptmannschaft Niederösterreich wurde, vorbehaltlich der Zustimmung der Staatsregierung, ein Übereinkommen geschlossen, wonach die vorerwähnten abgetrennten Teile als selbständige Hauptmannschaft dem Land Niederösterreich angegliedert wurden. Die neue Stadtverwaltung fand sich anfangs zunächst vor der fast unlösbar scheinenden Aufgabe, die Versorgung der Bevölkerung und der vielen tausend Flüchtlinge aus Kampfgebieten mit den notwendigsten Nahrungsmitteln zu sichern. In Stadtnähe waren etliche Waggons Hafer vorhanden, die vorerst herangebracht, dann vermahlen und zu Brot gebacken wurden. Einige zurückgebliebene Wehrmachtspferde dienten der ersten Fleischversorgung.

Ein eigenes Holzkommando war beschäftigt, für die wenigen vorhandenen Lastkraftwagen mit eingebauten Holzvergasern, Holz zu schneiden und zu hacken. Mit diesen Fahrzeugen wurde nun von den Bauernhöfen der umliegenden Landgemeinden Milch und andere Lebensmittel herangeschafft. Einige dieser Gemeinden wurden durch die niederösterreichische Landeshauptmannschaft verpflichtet, ihre Erzeugungsüberschüsse an landwirtschaftlichen Produkten ausschließlich dem neugeschaffenen Bezirk zur Verfügung zu stellen.

Nach der Besetzung von Steyr-Ost durch Sowjettruppen wurden in den Steyrwerken Reparaturen für die AutomobilabteiIung der 3. Ukrainischen Armee durchgeführt. Um die mit dieser Arbeit Beschäftigten vor irgendwelchen Belästigungen zu schützen, erhielten sie vorstehenden Schutzbrief, der vom militärischen Kommandanten der Fabrik und dem damaligen Direktor der Steyr-Daimler-Puch AG, Hacker, unterzeichnet ist.

Ein glücklicher Zufall fügte es, dass in St. Valentin die Maschinen eines Molkereibetriebes vorhanden waren. Diese wurde nach Steyr-Ost gebracht und im schwer bombenbeschädigten, notdürftigst instandgesetzten Haus Pachergasse 9 ein Molkereibetrieb errichtet. Diese Aktion stand unter Leitung des Herrn Julius Böhm.

Besondere Schwierigkeiten bereitete die ärztliche Versorgung der Kranken und die der schwerverwundeten Soldaten, die noch immer in die Stadt gebracht wurden. Steyr-Ost litt unter Ärztemangel. Das Landeskrankenhaus lag im amerikanischen Sektor der Stadt, ein Verkehr zwischen den beiden Stadtteilen bestand durch längere Zeit nicht. Das nächstgelegene Spital in Amstetten konnte wegen Überfüllung niemand aufnehmen. Unter größten Schwierigkeiten wurde nun auch, im Haus Punzerstraße 47 (Angestelltenheim), ein eigenes Krankenhaus geschaffen, das Herr Franz Hilber leitete.

Im neugeschaffenen „Steyrer Wochenblatt“, das in gesamt 10 Ausgaben erschien, konnten die „Kundmachungen“ und „Bekanntmachungen“ der Stadtgemeinde Steyr-Ost und der Bezirkshauptmannschaft Steyr-Ost veröffentlicht werden. Als Redakteur des neuen Blattes zeichnete Herr Nik. Riedmüller, gedruckt wurde es bei Emil Prietzel. Auf Seite 5 der 3. (Juni)-Ausgabe dieser Zeitung wurde durch Stadtgemeinde und Bezirkshauptmannschaft veröffentlicht, dass über Anordnung des Kommandos der Roten Armee Ausländer und ortsfremde Personen (darunter waren jene zu verstehen, die nach dem 1. September 1938 in Steyr Aufenthalt genommen hatten) Stadt Steyr und das Gebiet der Bezirkshauptmannschaft Steyr- Ost zu verlassen hätten. An diese Personen wurde mit sofortiger Wirkung die Lebensmittelzuteilung eingestellt.5) Im gleichen Blatt wurden die Erzeuger von landwirtschaftlichen Produkten aufmerksam gemacht, dass sie auch im Jahr 1945 verpflichtet waren, ihre Erzeugnisse im selben Umfang wie im Jahr 1944 an die zuständigen Abgabestellen abzuliefern.

Am Bahnhof Steyr waren 36 Waggons Tabak stehen geblieben. Diese willkommene Ladung ermöglichte, den Arbeitern der Steyrwerke Tabakprämien zu geben. Tabak erhielten auch die Bauern der Umgebung, um die Ablieferungsfreudigkeit zu heben, da das entwertete Geld wenig Anreiz bot.

In beschränktem Umfang wurde beim Bahnpostamt 2 am 3. Juni der Postbetrieb wiederaufgenommen. Briefe und Postkarten bis zu 20 Gramm Gewicht für Empfänger im Ort, in der Steiermark und in Niederösterreich waren zugelassen. Die Briefe waren beim Briefschalter des erwähnten Amtes abzugeben und die Gebühr bar zu bezahlen. Einzahlungen auf Zählkarten auf Konto des Postsparkassenamtes Wien konnten ebenfalls gemacht werden. Auch die Zahlkartengebühr war bar zu entrichten.

Das „Steyrer Wochenblatt“ verlautbarte, dass zum Zahlen von Steuern und Abgaben nachstehende Zahlungsmittel ungültig erklärt wurden:

„1. Reichskreditkassenscheine im Werte von 50 Pfennig bis zu 50 RM,

  1. Notgeld, das ist das sogenannte Eigrubergeld, aus gewöhnlichem Papier, auf dem linken weißen Kopfrandstreifen ist die Strafandrohung gedruckt, die Noten sind zu RM 1.000,—, 50,—, und 10,— im Umlaufe“.

Der oberösterreichische Gauleiter Eigruber scheint also in den letzten Kriegstagen die Herausgabe eines eigenen oberösterreichischen Notgeldes verfügt zu haben.

Über Wunsch der sowjetischen Besatzungsmacht nahmen Schauspieler des Steyrer Stadttheaters, verstärkt durch Wiener Kollegen, unter Leitung von Gottfried Treuberg — Zabloudil und Trude Lorek, als erste stehende Bühne des Landes im Jahr 1945 einen Spielbetrieb auf. In der von Bomben beschädigten Turnhalle des Ostteiles der Stadt (jetzt Jägergasse 1) wurde, nach provisorischer Instandsetzung des Gebäudes, das sogenannte „Neue Theater“ eröffnet. Bei der armseligen Beleuchtung von Petroleumlampen und Kerzen begann am 22. Juni die Spielsaison mit der Operette „Der fidele Bauer“ von Leo Fall. Dieser folgten „Liebelei“ von A. Schnitzler, eine Operette von H. Hirsch „Die tolle Lola“, das Schauspiel „Gespenster“ von Henrik Ibsen und das Lustspiel „Ingeborg“ von K. Götz. Am 4. und 5. Juli gab es sogar einen großen, bunten Kabarettabend.

Das Ensemble setzte am 15. September im alten Stadttheater (Berggasse) den Spielbetrieb fort.

Auf Grund weiterer Vereinbarungen mit den Amerikanern zogen sich die sowjetischen Besatzungstruppen am 28. Juli 1945 an die Landesgrenze in der Nähe des Bahnhofes Ramingdorf zurück. Die Amerikaner besetzten nun die ganze Stadt, die Trennung der Stadt in zwei Teile hatte aufgehört, eine gemeinsame Stadtverwaltung wurde wiedererrichtet.

  1. Am 23. und 24. Februar wurden drei Luftangriffe auf die Stadt durchgeführt, darunter ein Nachtangriff. Am ersten nahmen 30 und am zweiten 100 Bomber teil. Beim Nachtangriff konnte die Zahl der Flugzeuge nicht festgestellt werden. Es wurden in der Stadt insgesamt 199 Personen getötet: 103 einheimische Männer, Frauen und Kinder, 21 Soldaten, 45 ausländische Arbeiter und Arbeiterinnen und 30 Kriegsgefangene. Außerdem waren 103 Schwerverletzte und 97 Leichtverletzte zu verzeichnen. 1603 Zivilpersonen wurden obdachlos, da 87 Gebäude totale, 103 schwere, 77 mittlere und 355 leichte Schäden erlitten.
  2. Dieses Bataillon löste sich auf dem Anmarsch in Grünburg auf.
  3. Am 4. Mai hatten Anrainer der gefährdeten Brücken die angebrachten Minen auf sachkundige Art unschädlich gemacht. An der Steyrbrücke war es der Tischlermeister Schweiger, der diese gefährliche Arbeit durchführte.
  4. Franz Prokesch, geboren am 2. Juli 1898 in Schönau, Bezirk Krumau, Böhmen, erlernte das Zeugschmiedhandwerk und war seit September 1915 in den Steyrwerken beschäftigt. Seit 1916 gehörte er der Metallarbeitergewerkschaft an und übte in dieser verschiedene gewerkschaftliche Funktionen aus.
  5. Am 6. April 1946 befanden sich in Steyr noch rund 7.500 Ortsfremde, zum überwiegenden Teile Volksdeutsche aus Ungarn, Jugoslawien, Rumänien und den Sudetengebieten. Rund 20.000 Personen waren schon abtransportiert worden. Wie Bürgermeister Steinbrecher in einer Gemeinderatssitzung berichtete, handelte es sich vielfach um verzweifelte Menschen, die mit allen Mitteln der Aussiedlung zu entgehen trachteten.

Aus den Veröffentlichungen des Kulturamtes der Stadt Steyr, Heft 28, Dezember 1967

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