Hely Seinfeld, Überlebende der KZs des Nationalsozialismus, wanderte nach Israel aus

 

(1924 – 2005)

Überlebende der KZs des Nationalsozialismus, wanderte nach Israel aus

Hely Seinfeld

  • geb. 14.02.1924 in Steyr
  • gest. 05.05.2005 in Israel
  • Vater:       Otto Reinhard Popper,   Theaterschriftsteller („Das Warenhausfräulein“),   geb. 1871 in Prag; ermordet 19.04.1943 in Auschwitz
  • Mutter:      Ida Popper,       geb.1882 in Budweis; ermordet 19.04.1943 in Auschwitz
  • Geschwister:   Alfred, geb. 1903 – Schlosser  und  Wilhelm, geb. 1905  – Schlosser

Literatur über Hely Seinfeld:

  • Waltraud Neuhauser-Pfeiffer/ Karl Ramsmaier, Vergessene Spuren. Die Geschichte der Juden in Steyr, Grünbach 1998, 298-302
  • Waltraud und Georg Neuhauser, Fluchtspuren, Überlebensgeschichten aus einer österreichischen Stadt, Grünbach 1998, 13-34
  • Harald Friedl, Albtraum und Margarine, in: Die Presse (Spektrum) 07.05.2011, V-VI

Hely Seinfeld, geb. Popper:        „Ich muss das überleben“

  • Quelle: Fluchtspuren. Überlebensgeschichten aus einer österreichischen Stadt. Waltraud und Georg Neuhauser. 1998. S.13-34.

„Als zwei oder dreijähriges Kind konnte ich sagen: Ich bin die Hely Popper, wohne am Wieserfeldplatz und bin noch ledig. Mein Vater schrieb KOmödien und verkaufte Zeitungen. Davon lebten wir so recht und schlecht. Wir wohnten im Haus meiner Großeltern am Wieserfeldplatz und zahlten, soviel ich weiß, keine Miete. Ich erlebte eine glückliche Kindheit. “

„Dann kam der Februar 1934. Die Stimmung vor den Kämpfen war sehr angespannt. Meine Brüder wollten meine Eltern und mich nach Belgien holen, doch meine Eltern beschlossen, mich allein wegzuschicken und später nachzukommen. So fuhr ich am 9. Februar 1934 nach Belgien; ich war damals knapp zehn Jahre alt.“

„Eines Tage, im Sommer 1942, kam Frau Wilke zu mir und sagte: Du, Hely, … Diese Arbeit ist viel zu schwer für dich. Ich hab eine wunderbare Stelle für dich gefunden, du kannst als Küchenhilfe in Görings Jagdschloss in Gröde arbeiten. “  .. Jahrzehnte später, als ich einmal in die Gegend kam und sie besuchte, erfuhr ich den wahren Grund für ihr Verhalten. Man war dahintergekommen, dass Frau Wilke eine Jüdin beschäftigte und drohte ihr, die ganze Familie zu deportieren, wenn sie mich nicht entlassen würde.“

„Albtraum Auschwitz: Der Waggon wurde geöffnet, SS-Männer trieben uns mit Peitschen an: „Schnell, schnell heraus, Saujuden. Alle ausziehen. … “

„Eines Nachts werden wir plötzlich zum Appell gerufen. Wir werden hinausgetrieben, schnell, schnell, anziehen und raus. Was ist los? Da sehen wir drei Galgen. Drei Mädchen werden aufgehängt. Die ganze Nacht müssen wir stehen und zusehen. Einer sagt, die wollten flüchten, ein naderer, die hätten was gestohlen, jeder sagt etwas anderes. Ich habe so schreckliche Angst; ich zittere am ganzen Körper und bekomme Durchfall. Man steht dort und ist vollkommen hilflos. Ich fürchte, dass sie mich auch aufhängen, wenn sie sehen, dass ich mich angemacht habe. In diesem Moment wissen wir nicht, dass man die Mädchen bei Sabotageakten in der Fabrik ertappt hat. Die Szene ist mir im Traum immer wieder erschienen. Das ist eines der schrecklichsten Erlebnisse, ich werde es nie, nie vergessen!“

Albtraum und Margarine

  • 06.05.2011 | 15:44 |  Von Harald Friedl (Die Presse)

Philip floh vor den Nazis nach Palästina, Helene arbeitete in einem Jagdschloss, das Göring unterstand. Auschwitz entkam sie trotzdem nicht und er nicht dem Krieg. Nach Kriegsende begegneten sie sich in einer Bar in Brüssel – und die Liebe zweier jüdischer Österreicher begann.

Quelle: http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/658153/Albtraum-und-Margarine?from=suche.intern.portal (Mai 2011)

Sobald sich die Sonne zeigt, hält Philip Seinfeld nichts mehr in seinen vier Wänden. Am Strand von Tel Aviv fühlt sich das Leben klar und einfach an. Wir atmen die salzige Luft, die über das Meer heranzieht. Philip fragt mich, ob er es nicht gut erwischt habe hier. Dieses Israel mit all seinen Verrücktheiten und Katastrophen ist seine Heimat geworden, aber Österreich, besonders Wien, das Stück Welt geblieben, auf das er sich immer wieder bezieht.

Philip ist Soldat geworden, 1943, nicht aus Begeisterung, aber hätte er nur Bäume pflanzen sollen in Palästina? Die Verhältnisse ließen Juden vor 70 Jahren nur wenig Spielraum. Philip nutzte ihn, ebenso Helene. Ein gewisses Talent zu unkonventionellen Lösungen hatte sie bei ihrem Aufwachsen in Steyr gewonnen, vom Vater wohl, der selber so seine Erfahrungen mit dem Herumziehen und dem Kämpfen hatte. In den 1910er-Jahren führte Otto Popper mit Frau und Söhnen ein Dichterleben in Berlin. Seine patriotischen Gedichte waren erfolgreich, sein politisches Theaterstück „Das Warenhausfräulein“ ein Renner. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren ihm gute Freunde, und als Rosa 1919 ermordet wurde, wiesen ihn die Behörden aus Deutschland aus. Er verlor viel, als er mit der Familie zurück nach Steyr ins Haus der Schwiegereltern am Wieserfeldplatz zog, wo viele Juden wohnten.

Auch die Eltern von Philip logierten dort, wo viele Juden lebten, im zweiten Wiener Gemeindebezirk. In der Praterstraße 23 hatten sie ein Hutgeschäft, im Stuwerviertel die Wohnung. Philip kam 1920 als sechstes von acht Kindern zur Welt. Mit 16 ging er erstmals auf Reisen, mit 17 trampte er nach Paris und war drauf und dran, sich bei den Internationalen Brigaden zum Spanienkrieg zu melden.

Auf dem Tisch seiner kleinen Wohnung in Ramat Gan liegen Fotos ausgebreitet: er als junger Mann in kurzen Hosen, die Geschwister und Eltern, Helene sowie Philip gemeinsam mit Helene auf dem Hochzeitsbild. Philip hat seine Hely immer bewundert. Sie konnte Bücher in vier Sprachen lesen, Deutsch, Englisch, Französisch, später Hebräisch, das Regal ist voll davon. Ende 1945, als er ihr begegnete, arbeitete sie als Übersetzerin beim britischen Geheimdienst. Kameraden aus der Kaserne in Gent hatten ihm von der hübschen Österreicherin erzählt, die in der „Fregattenbar“ in Brüssel verkehrte. Philip sprach sie an. Sich in der Muttersprache unterhalten zu können schuf Vertrauen. Sie sprachen über nichts Problematisches, denn die Schwermut klebte ohnehin an allen Entwurzelten, die frei waren zu gehen – fort oder aufeinander zu. Helene wollte tanzen. Philip konnte es nicht, also ließ er sich führen und von Helene die Schritte beibringen.

Als Helene 1924 geboren wurde, waren ihre Eltern schon alt. Ihre mehr als 20 Jahre älteren Brüder, die in der Wirtschaftskrise die Arbeit in den Steyr-Werken verloren hatten, waren gemeinsam nach Belgien gegangen. Fred und Willi fanden Stellen in Lüttich in der Stahlindustrie. Sie verdienten genug, um die Familie in Steyr, das immer mehr zum Mittelpunkt einer Elendsregion und zu einem Brennpunkt der politischen Polarisation in Österreich wurde, zu unterstützen. Otto Popper las der kleinen Helene gerne aus seinen Werken vor, ihr gefiel das. Aber Zeit, auf die Interessen des Mädchens einzugehen, nahm er sich kaum. Und die Mutter wusste gar nichts mit der quirligen Nachzüglerin anzufangen.

Auf dem Weg in den Bürgerkrieg

Helene war ein wildes Mädchen. Sie kletterte auf Bäume und kam erst wieder runter, wenn es ihr passte. Kurz vor ihrem zehnten Geburtstag verlor sie ihr vertrautes, verwirrendes Umfeld. Die politischen Spannungen verschärften sich. Otto Popper sah Österreich auf einen Bürgerkrieg zusteuern und musste mit seiner Verhaftung rechnen. Zu ihrer Sicherheit schickte er die kleine Tochter zu seinen Söhnen nach Wallonien. Die waren inzwischen keine Industriearbeiter in Lüttich mehr, sondern Geschäftsinhaber in Arlon. In ihrem Laden namens „Popper Fréres“ führten sie Kleider und Galanteriewaren. Helene lernte in kürzester Zeit Französisch. Als die Eltern zwei Jahre später nachkamen, war Helene ihrer vollkommen entwöhnt. Sie blieb bei den Brüdern.

Am 15. März 1938 endete auch für Philip das ruhige Familienleben. An der Tür des Hutgeschäfts stehend, sah er Hitler im offenen Wagen, vom Praterstern kommend, vorbeifahren. Ausgerechnet der lungenkranke Bruder Egon, der feinsinnige Musiker, wurde aufgegriffen und gezwungen, mit einer Zahnbürste Pflastersteine zu putzen. Ein Schwager wurde verhaftet und in die Ausstellungsstraße gebracht. Das nahm Mutter Seinfeld nicht hin. Sie stürmte in das Kommissariat und bekam den jungen Mann frei. Wenige Tage später wurden das Hutgeschäft und die Wohnung „arisiert“. Die Familie musste zu Verwandten ziehen. Frau Seinfeld war klar, dass die Juden in Wien keine Zukunft hatten, und schickte ihre Kinder von zu Hause weg. Eine der Schwestern Philips schlug sich mit ihrem Mann nach England durch, ebenso Bruder Egon. Ein Bruder kam mit einem Kindertransport, eine Schwester illegal über die Schweiz nach Palästina. Philip folgte im September 1938 seinem Bruder Hermann und der Lieblingsschwester Regi in die Niederlande. Nach der Kristallnacht im November holte Regi auch die kleine Rosa aus Wien heraus. Die Eltern blieben zurück.

Ein großes Gefühl von Sicherheit machte sich unter den in Holland lebenden Seinfelds nicht breit. Deutschland lag so nah. Philip kam in Kontakt mit der zionistischen Hilfsorganisation Joint. Joint besorgte ihm ein eigenes Zimmer und schließlich mit 550 anderen einen Platz auf einem illegalen Transport nach Palästina. Am 1. September 1938 ging Philip bei Netanya, nördlich von Tel Aviv, an Land.

Zu dieser Zeit war Helene 14. Österreichische Flüchtlinge erzählten in Arlon von schrecklichen Vorkommnissen daheim. Am 10. Mai 1940 griff Deutschland Luxemburg, die Niederlande und Belgien an. Weil die Poppers als Deutsche galten, sahen die Behörden in den Brüdern potenzielle Kollaborateure. Man nahm sie fest. Zugleich setzte eine Fluchtwelle ein. Helene versuchte, sich nach England durchzuschlagen, kam aber nur bis Arras. Die Brüder blieben verschwunden, somit war Helene alleine für die Versorgung der alten Eltern zuständig. Dass Fred und Willi die Flucht gelungen war, erfuhr Helene erst nach dem Krieg.

„Popper Fréres“ wurde mit dem Davidstern gekennzeichnet. Das Gebot, nicht bei Juden zu kaufen, missachteten auch manche deutsche Soldaten. Einer von ihnen war Gerhard Wilke. Manchmal ließ er ein Stück Kommissbrot oder Konservenbüchsen auf dem Tresen liegen. Wilke war ein kleiner Gefreiter, aber auf seinem Posten in der Kommandantur liefen regional wichtige Informationen zusammen. So erfuhr er von einer geplanten Vergeltungsaktion: Partisanen hatten zwei Wehrmachtsoffiziere in den nahen Ardennen gefangen genommen und hingerichtet. Zur Strafe sollten junge Arlonerinnen und Arloner in Arbeitslager gezwungen werden. Wilke beschwor Ida und Otto Popper, ihre Tochter zu verstecken oder wegzubringen, aber sie wussten sich nicht zu helfen. Da tat Gerhard Wilke, was er tun konnte. Auf der Kommandantur gab es Blanko-Personalausweise. Er stellte Helene einen neuen aus, einen, in dem alle Angaben korrekt waren – ausgenommen ein Detail: Wilke ließ den Judenvermerk weg. Von da an besaß Helene Papiere, die sie als sogenannte Volksdeutsche auswiesen. Wilke tat noch etwas: Er schrieb Helene eine Arbeitsverpflichtung an den Bauernhof seiner Frau in der Lüneburger Heide. Vier Tage später, im Jänner 1941, kam Helene, begleitet vom Gefreiten Wilke, in seinem Heimatort Grippel an. Das Nest an einem mäandernden Seitenarm der Elbe sollte für eineinhalb Jahre zum Refugium Helenes werden.

Zu jener Zeit rackerte Philip seit fast eineinhalb Jahren im Kibbuz. Mochte seine Lage auch überschaubar sein, so hatte er doch große Sorgen wegen seiner Angehörigen in Europa. Beim Abschied hatte sein Bruder Hermann noch gemeint, schlimmer, als in ein Arbeitslager gesteckt zu werden, könne es nicht kommen. Auch Rosi und die Lieblingsschwester Regi mit ihrem Mann und den Kleinkindern waren in Holland geblieben. Mehr als sechs Jahrzehnte später sollte sich bei Philip ein Augenzeuge ihrer Deportation melden: Hans Wobben hatte als Kind beobachtet, wie die Nachbarn abgeholt wurden. 2004 sprach er mit Philip darüber am Telefon, und die beiden alten Männer weinten.

Schwarzlockig unter Blonden

Doch zurück an die Elbe: Im Sommer 1942 geriet Helenes Leben wieder aus den Fugen. Ohne erkennbaren Anlass wurde Frau Wilke aggressiv und eröffnete Helene, sie müsse den Hof verlassen. Sie hatte Helene bereits eine andere Arbeit vermittelt, die umgehend anzutreten war, eine Stelle als Dienstmädchen am nahe gelegenen Jagdschloss Göhrde. Alle am Wilke-Hof wussten, dass Schloss Göhrde voller BDM-Kader war und dem Reichsjägermeister Feldmarschall Hermann Göring unterstand. Die kleine, schwarzlockige Helene war nun im Kreise großer, blonder Frauen. Von Göring war lange nichts zu sehen. Er schätzte das Revier wegen des dürftigen Wildbestandes nicht.

Über Monate ließ ihr unbefangenes Auftreten alle übersehen oder ignorieren, dass die junge Frau nicht den geringsten Enthusiasmus für die nationalsozialistische Sache zeigte. An jenem Herbsttag in der Göhrde, als Görings Ankunft zu erwarten war, wusste Helene nicht, dass ihr die Täuschung des Bürgermeisters von Grippel, Bauernführer Barge, nicht gelungen war und dass der Gustel Wilke mit härtesten Konsequenzen gedroht hatte, falls sie „die kleine Jüdin“ nicht umgehend aus dem Dorf schafft. Bald aber würde sie einem ganz anderen Kaliber gegenüberstehen, der Nummer zwei im Staate. In Panik versuchte sie, sich hinten einzureihen. Doch das ließ deutscher Ordnungssinn nicht zu. Alle der Größe nach, hieß es, die Kleinste vorne. Helene zitterte am ganzen Leib, als der Wagen des Feldmarschalls hielt.In den folgenden Tagen kreuzten sich die Wege des Feldmarschalls und des Dienstmädchens mehrmals. Einmal war sie alleine im Salon und staubte die Regale ab, als Göring eintrat. Er schenkte Helene kaum Aufmerksamkeit, sagte nur: Lass dich nicht stören, Mädel. Dann nahm er ein Buch zur Hand und setzte sich.

Nach einem Jahr Arbeit in der Göhrde bekam Helene wie alle Bediensteten unglücklicherweise frei. Bahnkarten für die Heimfahrt wurden ausgehändigt. Tage später im Sommer 1943 stand Helene vor der Wohnung ihrer Eltern in Arlon. Sie schloss die Tür auf, niemand war da. Nachbarn erzählten, die Nazis hätten alle Juden abgeholt. Helene sollte besser verschwinden, denn die Gestapo suche nach ihr.

Während sich Philip freiwillig zur Jewish Brigade der britischen Armee meldete und bei den Bitterseen am Sinai deutsche Kriegsgefangene bewachte, musste Helene rasch eine neue Arbeitsstelle finden, die Unterschlupf bot. Auf dem Amt in Brüssel zeigte sie den Urlaubsschein vom Jagdschloss Göhrde und vergaß nicht zu erwähnen, dass es Hermann Göring gehörte. Weil Helene mehrsprachig war, bekam sie eine Stelle bei Dynamit Nobel in der Umgebung von Bonn, wo sie in der Kantine arbeitete und fallweise als Übersetzerin zwischen deutschen Vorarbeitern und französischen Zwangsarbeitern.

Wieder hatte Helene eine Position, in der sich nicht schlecht überleben ließ, und wieder trat etwas ein, was sie aus ihrem Zufluchtsort vertrieb. Frische Zwangsarbeiter stammten just aus der Gegend von Arlon, und die Gefahr, dass jemand das Mädchen erkannte und verriet, war groß. Helene erfand eine Ausrede, um nicht mehr zur Arbeit erscheinen zu müssen. Der Mann ihrer Berliner Tante sei in Russland gefallen, erzählte sie dem Chef, sie müsse umgehend zu ihr reisen.

Warum Helene Popper ausgerechnet nach Berlin wollte, bleibt rätselhaft. Vielleicht dachte sie, in der Großstadt ließen sich Spuren leichter verwischen. Doch die Behörden deckten auf, dass das gesuchte Judenmädchen aus Arlon bei Siemens in Berlin arbeitete. Helene bekam eine schriftliche Vorladung der Gestapo. Mit sich naiv gebärdender Kühnheit begegnete sie der Ausweglosigkeit ihrer Situation. Dass sie in die Mühlen eines Vernichtungssystems geriet, war ihr noch nicht bewusst. Ihr Abtransport hatte etwas Absurdes an sich. Da Helene unter den letzten Berliner Juden war und die Gefangenen der Ordnung halber in Gruppen ihrer Herkunftsländer deportiert werden mussten, wurde Helene als einzige aus Belgien stammende Jüdin, begleitet von zwei SS-Männern, zunächst in einem PKW von Moabit ins Lager Groß-Rosen bei Breslau gebracht. Weiter nach Auschwitz ging die Reise aber im Viehwaggon.

Im KZ hörte das empirische Selbst auf zu existieren, schreibt der Historiker Gerhard Botz. Gut möglich, dass der enorme Druck jener Zeit Helenes Erinnerungen verwässerte. Gewiss ist, dass Philip sie in den Jahren ihrer Ehe vor ihren Erinnerung bewahren wollte. Er half ihr, Menschen zu meiden, die wie sie im KZ gewesen waren, jedoch im Unterschied zu ihr darüber sprechen wollten. Erst 1995 erzählte Helene Popper dem Lehrerpaar Waltraud und Georg Neuhauser, die die ausführlichen Gespräche in dem Buch „Fluchtspuren“ dokumentierten, in Steyr offen von ihrem Leben. Vom Hunger, den Demütigungen, den Selektionen. Und wie sehr sie psychisch abstumpfte. Ihr entglitt jedes Mitgefühl, sie bestahl Sterbende, um selbst am Leben zu bleiben. Du bist dort kein Mensch mehr, sondern wie ein Tier, sagte sie zu den Neuhausers.

Zwei Selektionen durch Josef Mengele überstand Helene, bei der letzten war sie völlig entkräftet und voller Krätze. Sie musste allen Mut zusammenreißen, um den KZ-Arzt glauben zu lassen, sie sei noch eine gute Arbeitskraft. Im Jänner 1945 wurden die Gefangenen aus Auschwitz getrieben. Helene überlebte auch den Todesmarsch nach Ravensbrück.

Bei ihrer Befreiung am 23. April war sie 21 Jahre alt und wog 33 Kilo. An Typhus und Paratyphus erkrankt, wurde sie von einem Transport des Grafen Bernadotte erst nach Dänemark, dann nach Malmö gebracht. Genesen schrieb sie noch im Spital einen Brief an die schwedische Königin, um sich beim dänischen und schwedischen Volk für die Hilfe und Güte zu bedanken. Der Brief wurde in Tageszeitungen veröffentlicht, und Helene erhielt massenhaft Geschenke aus dem ganzen Land. Bei ihrer Rückkehr nach Arlon fand sie die Wohnung ausgeraubt vor. Helene erfuhr von der Ermordung der Eltern in Auschwitz, und dass den Brüdern die Flucht über die Pyrenäen nach Portugal gelungen war. Fred lebte nun in Belgisch-Kongo und Willi in Palästina. Auch Philip erfuhr in Belgien von der Ermordung seiner Eltern, vom Tod des Bruders Hermann, der kleinen Schwester Rosi, seiner Lieblingsschwester Regi, ihrer beiden Babys, ihres Mannes. Sie sind bis heute bei mir, erzählt Philip, sie leben in mir weiter.

Nachdem Philip und Helene in der „Fregattenbar“ Bekanntschaft gemacht hatten, trafen sie sich immer wieder. Es entwickelte sich keine überstürzte, leidenschaftliche Beziehung, aber tiefes Gefühl. Sich in einem anderen Menschen zu verlieren, dafür waren sie beide wohl zu beschädigt. Nicht nur einen Platz im Leben galt es wieder zu finden, sondern auch einen Bezug zu sich selbst, nachdem alle Gewissheiten verloren gegangen waren. Helene suchte einen Neuanfang. Die Chance dazu glaubte sie in Palästina vorzufinden. Philip riet ihr ab zu emigrieren. Für eine so fragile Frau war das Leben dort viel zu kompliziert.

An einem anderen Tag, als er mit ihr durch Brüssel zog, spielte er laut mit dem Gedanken, dass sie heiraten könnten. Aber ich kann doch keine Kinder bekommen, wies Helene ihn zurück. Um Anschluss in der Forschung nach billigen Methoden zur Massensterilisation von Frauen zu halten, übte Josef Mengele in Auschwitz mit einer chemischen Keule, die Kollege Clauberg entwickelt hatte. Eines von Mengeles Übungsobjekten war 1944 Helene gewesen. Daher war sie überzeugt, niemals schwanger werden zu können. Philip ließ sich davon nicht irritieren. Er hatte bereits ein Kind aus einer kurzen Ehe in Palästina. Helene reisteihm nach und sie heirateten. Das Leben bahnt sich immer wieder seinen Weg. Und so gebar Helene 1947 den Sohn Arie und 1949 dieTochter Nurit. – 1971geschah etwas, was Helene mit einer besonders schmerzlichen Periode ihres Lebens versöhnte. Unterwegs im Nachtzug von Wien nach Hamburg, wo Arie studierte, warf sie in der Morgendämmerung zwischen den Vorhängen einen Blick hinaus und erkannte die Elbe und die Lüneburger Heide. Tage nach der Bahnfahrt nahm Helene trotz innerer Widerstände Kontakt mit der Bäuerin auf. Die war außer sich vor Freude, dass ihre Hely noch lebte. Endlich konnte Gustel erzählen, dass der Bauernführer Helene als Jüdin erkannt und mit schrecklichen Konsequenzen für Familie Wilke gedroht hatte. Dass sie Helene ausgerechnet einen Arbeitsplatz auf Schloss Göhrde vermittelte, war teils Zufall, weil dort eine freie Stelle inseriert war. Aber es war auch Kalkül im Spiel, dass Helene in der Höhle des Löwen möglicherweise sicherer war als anderswo.

Am 5. Mai 2005 starb Helene Seinfeld. Philip gedenkt ihrer mit viel Liebe: Weißt du, erzählt er, es war oft schwer, sehr schwer. Aber wir haben ein schönes Leben gehabt mitsammen. Schwer waren die gesundheitlichen Schäden seiner Hely und ihre Albträume. Ihre fast panische Angst vor Ärzten wurde sie nicht los. Wenn Brot ausgegeben wurde, hatten die Häftlinge in Auschwitz manchmal einen Klecks Margarine auf die dreckige Hand bekommen. Seither erinnerte sie der Geruch von Margarine an das KZ. Also besorgte ihr Philip sogar in den ärmsten Jahren Butter.

Philip reist weiterhin fast jedes Jahr nach Wien, Steyr, Salzburg und Wagrain, und er freut sich, wenn der oberösterreichische Landeshauptmann Pühringer nach Israel kommt, um die vertriebenen österreichischen Juden, ihre Angehörigen und Nachfahren zu einem Essen einzuladen. Immer wieder fallen ihm Geschichten von früher ein, vom Prater, von Grippel an der Elbe und von der „Fregattenbar“, wo er seiner Hely zum ersten Mal begegnet ist. Sie haben einander Halt gegeben, im Erinnern wie im Vergessen. An beidem musste sie stets härter arbeiten als er. Philip ist 91 Jahre alt; nach einer Hüftoperation steht er etwas wackelig auf den Beinen. Aber Lachen und Leichtigkeit sind ihm bis heute nicht vergangen. ■

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 07.05.2011)

Steyrer Pioniere

Dieser Blog ist eine Sammlung von Materialien, Bildern, Berichten und Biografien von verstorbenen Persönlichkeiten aus und in Steyr. Initiiert durch ein Schulprojekt der HAK Steyr und der Redtenbacher Gesellschaft Steyr

 

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