Von Eberhard Kranzmayer
Der zweite Teil des vorliegenden Aufsatzes wird uns mit jenem uralten Zeitabschnitt der Vor- und Frühgeschichte unserer vergangenheits- und kulturreichen Steyrer Heimat, über welcher uns die schriftlichen Geschichtsquellen nur schattenhaft Unklares ober nichts mehr berichten, bekannt machen. Um die Lücken auszufüllen, springen zwei Wissenschaftszweige ein. Erstens ist es die Archäologie oder Altertumskunde, die in unseren Gegenden schon vorwiegend mit Ausgrabungen und deren kritischer Beurteilung arbeiten muss, und ihre ältere Schwester, die Prähistorie oder Urgeschichtsforschung, die auf solche Bodenfunde allein angewiesen ist. Zweitens ist es die Ortsnamenforschung. Wir wollen uns mit den Leistungen der Namenkunde für die Vor- und Frühgeschichte unseres Landes befassen und zeigen, was sie auf diesem Gebiet kann. Leichter haben es vor dem großen Publikum entschieden die Archäologen und Prähistoriker. Diese können mit konkreten, mit handgreiflichen und sichtbaren Dingen aufwarten, mit alten Fundgeräten, mit ausgegrabenen Baulichkeiten und, wenn sie besonderes Glück haben, sogar mit mehr oder weniger aufschlussreichen Inschriften aus uralter. Zeit. Das kann die Ortsnamenforschung nicht. Diese muss leider mit abstrakterem Material arbeiten, das man nicht mehr sieht und greift, sondern nur hört und oft nicht einmal das, denn die heute gesprochenen und gedruckten Namen müssen überdies sprachgeschichtlich weit zurück nach den Sprachgesetzen umkonstruiert werden, bis sie jene Urform annehmen, die endlich eine nach allen Seiten hin befriedigende Erklärung und Deutung gestattet: wir würden dafür sagen, die Etymologie des Namens. All das ist nicht mehr zu sehen und zu fühlen. Die meisten Leute wissen überhaupt nichts davon, wie wichtig für die älteste Geschichte jedes Landes und jeder Gegend die Ortsnamenforschung wird. Dennoch wollen wir ja alle möglichst viel wissen über die Geschichte unserer Heimat, denn dieses Wissen um die Vergangenheit erfüllt uns mit Stolz auf sie. Man darf mit Freude sagen, dass unser kleines Österreich sick gerade auf dem Gebiet der Ortsnamenforschung in der Welt einen internationalen Ruf errungen hat und dass es in der Namenskunde seit einem halben Jahrhundert eine rühmliche Stellung einnimmt.
Wie gelangt aber die Ortsnamenforschung zu diesen historisch brauchbaren Resultaten? Das zu zeigen und den methodischen Weg klarzulegen, fällt in den ersten Teil meiner Ausführungen. Sonst versteht man die Ergebnisse in ihren Fundamenten nicht. Es ist ein schwerer und umständlicher, aber auch ein recht interessanter Weg. Ist denn die Ortsnamenforschung nicht vielleicht nur eine lässige Spielerei mit Lauten und Wörtern, eine Spielerei, die sich, um nicht allzu kindisch zu wirken, nachträglich das schleißige Mäntelchen ernster Wissenschaft umgehängt hat? So oder ähnlich stellen sich ja heute viele unter denen, welche noch nickt wissen, dass die Erforschung unserer Ortsbezeichnungen von den historischen Wissenschaften sehr ernst genommen wird und dass sogar aufgrund eines allgemeinen Bedürfnisses heute schon eine internationale Organisation für Namenforschung zum Zwecke des überstaatlichen Erfahrungsaustausches besteht, unseren Wissenschaftszweig vor. Sie denken es sich dann etwas mitleidig folgendermaßen: Man nehme einen beliebigen Namen her und deutle nach Herzenslust so lange an ihm herum, bis sich eine recht abenteuerliche Erklärung gefunden hat. Dann freue man sich über seine Entdeckung. Und wenn man gar alle oder die meisten Ortsbezeichnungen in solcher Weise erklärt zu haben glaubt, sei man tief befriedigt und sage sich: „So, jetzt bin ich fertig!“ In Wirklichkeit ist das ganz anders. Zuerst muss man über jeden Namen, den man deuten will, ein möglichst umfangreiches Material sammeln und sich außerdem mit der gesetzmäßigen Entwicklung der Sprache, der dieser Name angehört, innigst vertraut gemacht haben. Man darf nicht erraten, man muss beweisen können. Die amtliche Schreibung allein, zum Beispiel bei den Wörtern Steyr und Gleink, genügt uns bei weitem noch nicht. Zu allererst muss man erfahren, wie diese Namen im Dialekt ausgesprochen werden, und zwar am besten im altertümlichsten Bauerndialekt der betreffenden Gegend. Oft ist die amtliche Schreibung, die den meisten Leuten als das einzig Richtige erscheint, vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt aus mangelhaft oder überhaupt falsch. Etwa wird das Wort Steyr zwar mit Ypsilon geschrieben, es besteht aber kein sprachhistorischer Anlass für diese merkwürdige Schreibweise. Unsere Bauern sagen entweder Sdäia, Sdair oder Sdai, dies reimt überall z. B. mit dem Worte Gaia. Gair oder Gai, dieses wieder wird seinerseits nach der Schrift Geier geschrieben; nach solcher Gegebenheit wäre also genau genommen die Schreibung Steier mit ei und -er richtiger. Indessen ist uns die andere Schreibweise mit Ypsilon zur lieben Gewohnheit geworden. Sie stammt aus der Barockzeit. Damals wollte man alles möglichst abenteuerlich und fremdartig ausstatten, daher das beim Barockmenschen außerordentlich beliebte „fremde i“. In der Schreibung Steyr ist es ein alter Zopf, aber ein uns lieb gewordener Zopf, den niemand abschneiden will, der aber den Sprachforscher nichts mehr angeht.
Wir müssen noch viel mehr wissen. Wir müssen das ei der Wörter Steyr und Gleink oder richtiger gesagt das ai der mundartlichen Entsprechung sdair und Glaink zur Lautgeschichte des Dialektes in Beziehungen setzen. Gewöhnlich ist der mundartliche Zwielaut ai aus einem langen mittelhochdeutschen i entstanden, das Wort (Bair z. B. lautete in mittelhochdeutscher Zeit, etwa um 1200 unserer Zeitrechnung, gir. Daher kann man damit rechnen, dass auch Steyr damals Stir und Gleink damals Glink gelautet hat. Wir haben damit zum erstenmal ein deutsches Sprachgesetz auf unsere Namen angewandt. Das Nibelungenlied beginnt mit den Worten: Uns ist in alten maeren wunders vil geseit, von heleden lobebaeren, von grozer arebeit, von vröuden, hochgeziten, von weinen und von klagen, von küener recken striten muget ir nu wunder hoeren saagen. Heute dürften wir nicht mehr hochgeziten und nicht mehr striten sprechen und schreiben, wir müssten Hochzeiten, streiten mit ai dafür einsetzen, und das ist schon unser Wandel vom mittelhochdeutschen i zu unserem ai. Jedem mittelhochdeutschen i entspricht also jetzt tatsächlich der Zwielaut ai, der regelmäßige Wandel dieses alten i zu ai ist ein Sprachgesetz und im Besonderen, weil er sich auf einen Laut bezieht, ein Lautgesetz. Wir haben dieses Lautgesetz umgekehrt angewandt und für Steyr, Gleink die mittelhochdeutschen Lautformen Stir, Glink errechnet. Ob dies richtig war, werden wir später erfahren. Der Ortsnamenforscher muss alle Lautgesetze dieser Art kennen. Die Namen sind ja, genau genommen, nichts anderes als einfache Wörter unserer Sprache, sie sind diesen Gesetzen genauso unterworfen, wie alle anderen Wörter. Der Namenforscher muss diese Sprachgesetze sogar restlos beherrschen, und das ist eine hohe Anforderung, denn es gibt deren mehrere hundert; allein an Lautgesetzen, welche vom mittelhochdeutschen zum neuhochdeutschen Sprachzustand führen, gibt es deren, alles zusammengenommen, mehr als ein halbes Hundert. Dabei ist es zu wenig, allein die Gesetzmäßigkeit der Lautgeschichte zu kennen. Auch die Wörter verändern sich, etwa bildet sich die Bedeutung und der Sinn dieser Wörter im Laufe der Jahrhunderte um. Greifen wir wieder zurück auf die zitierten Anfangszeilen des Nibelungenliedes. Im Mittelhochdeutschen ist diu höchzit oder im Nibelungenlied das hochgeziten nicht allein die Trauungsfeierlichkeit, wie bei unserem entsprechenden Wort Hochzeit, sondern jede hohe Zeit, außer der Trauung auch die Taufe, die Siegesfeier usw. Es hat sich der Wortsinn verändert. Auch diese Bedeutungsveränderungen der Wörter sind bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfen, auch darüber gibt es feststehende Sprachgesetze. Ferner heißt es an der zitierten Stelle des Nibelungenliedes von heleden lobebaeren sowie von grozer recken striten; die Ausdrücke lobebaere und recke gebrauchen wir normalerweise nicht mehr, fürs erste Wort müssten mir etwa „lobenswert“, fürs zweite etwa „erprobter Abenteurer und Held“ einsetzen. Es sind alte Wörter verschwunden und ausgestorben und durch neue Wörter sozusagen ersetzt worden. Auch dieser Wortersatz vollzieht sich wieder nach bestimmten Sprachgesetzen. Alle Sprachgesetze zusammen haben es im Laufe eines Jahrtausends erreicht, dass sich die ganze Sprache in ihren Grundfesten bis zur Unverständlichkeit umgebildet hat. Die althochdeutschen Sprachdenkmäler verstehen wir ohne genaues Vorstudium nicht mehr, wir müssen althochdeutsch nahezu wie eine Fremdsprache lernen, selbst dann, wenn das althochdeutsche Denkmal im Dialekt unseres eigenen Staates und Landes aufgeschrieben worden war. Alle inzwischen durchgeführten Veränderungen hat also der Namenforscher möglichst vollständig zu kennen, denn viele unserer Ortsnamen reichen bis in diese althochdeutsche Periode, manche sogar noch weiter zurück. Man stelle sich vor, was herauskäme, wenn die Namenkunde alle diese Sprachgesetze unberücksichtigt lassen würde. Es würden bestimmt die meisten Namendeutungen falsch werden; würde sich der Erklärer allein aufs Erraten oder, wollen wir es volkstümlich sagen, auf seine gute Nase verlassen, die Etymologien würden vor dem Auge des Fachkundigen einer vernichtenden Kritik anheimfallen. Desgleichen ist auch die dialektgeografische Verbreitung aller dieser Gesetze einst und jetzt in Betracht zu ziehen. Wer sie unberücksichtigt lässt, geht in die Irre. Durch die Anwendung dieser Gesetze auf die Namenforschung unterscheidet sich der Fachmann vom Dilettanten.
Ein dilettantischer Namenforscher hat einmal vorgeschlagen, den Namen der Landeshauptstadt von Kärnten, Klagenfurt, vom deutschen Wort klag, klage, das ist der Sumpf, der Morast, abzuleiten. Dieses Wort klag(e) existiert wirklich in der genannten Bedeutung. Es ist allerdings ausgesprochen plattdeutsch, in Österreich ist es gänzlich unbekannt und hat nie existiert. An und für sich wäre es verlockend, Klagenfurt als Furt im Sumpfgebiet auszulegen, denn die Umgebung von Klagenfurt war tatsächlich bis ins ausgehende 19. Jahrhundert Moorland. Trotzdem scheitert diese Auslegung sofort an ihrer dialektgeographischen Unmöglichkeit. Daraus ersieht man, welch hohe Anforderungen die Namenkunde an ihre Betreuer stellt.
Zur hieb- und stichfesten Deutung von Ortsnamen ist außer der Bekanntschaft mit der amtlichen Schreibform und mit der mundartlichen Lautung noch mehr erforderlich. Um die älteste Gestalt des Namens, die uns endlich seine einwandfreie Erklärung gestattet, sicher zu untermauern, sollen wir auch noch die urkundlichen Formen aus vergangenen Jahrhunderten zusammentragen, und zwar möglichst alle. Je näher wir mit diesen urkundlichen Belegen an jenen Zeitpunkt herankommen, in dem der Name selbst wirklich entstanden ist, desto sicherer können wir ihn erklären. Und nun wollen wir einmal nachsehen, wie es sich dabei mit unseren beiden Beispielen, mit Steyr und Gleink, im Lichte der Urkunden verhält. Für den ei-Laut in Steyr haben mir lautgeschichtlich ein mittelhochdeutsches Stir mit langem i errechnet; weil der Ortsname Gleink jetzt ebenfalls mit ai ausgesprochen wird, dürfen wir folgerichtig auch bei ihm mit einem mhd. Glink mit diesem langen i rechnen. Jetzt erkennen wir erst, wie wichtig die urkundlichen Formen werden. Die Rechnung war in beiden Fällen falsch. Die Stadt Steyr, bei der wir zuerst verharren wollen, hieß etwa im 11. Jahrhundert nicht Stir, es wurde vielmehr Stire mit angehängtem -e geschrieben. Auch der Fluss Steyr hieß damals genauso Stira und später Stire, das Wort war weiblichen Geschlechtes und ist es als Flussbezeichnung heute noch; wir sagen ja die Steyr. Wir haben bei unserer Lautrechnung nicht erwogen, dass nach den Sprachgesetzen auch die zweisilbige Lautung Stire möglich ist. Sie erinnert an eine uns wohlbekannte Form, an Styria. Dieses Styria wieder hat uns das alte Kirchenlatein des Landes überliefert. Die kirchenlateinischen Formen gehen nicht selten bis in uralte Zeiten zurück. Ein solcher Fall ist auch unser Styria. Darüber werden wir später noch Näheres hören. Gleink aber heißt urkundlich in Wirklichkeit völlig anders. Hier haben wir mit mhd. Glink, auch was sein i betrifft, falsch gerechnet. Es wird nämlich im 12. Jahrhundert tatsächlich als Glunich, also mit u und nicht mit i, geschrieben. Gleink ist kein deutsches Wort mehr. Wie bei Steyr existiert auch hier ein Gewässer gleichen Namens, so wie die Stadt Steyr am Fluss Steyr liegt, befindet sich das Dorf Gleink an dem Bach Gleink. Auf die richtige Deutung wären wir bei Gleink ohne die urkundlichen Schreibungen überhaupt nicht gekommen. Wir müssen schon eingehende Kenntnisse besitzen, um auf sie zu stoßen und um herauszubekommen, dass im Namen Gleink ein Wort steckt, das auf südslawischem Boden jetzt als Kljunica entgegentritt. Kljunica ist ebenfalls Flussname; -ica ist eine sehr häufige Endung in südslawischen Gewässernamen, z. B. Bistrica, Strumica, Lesnica usw. Als Wortstamm bleibt Kljun übrig, das bedeutet die Schnepfe. Dann würde also Gleink einen Bach bezeichnen, der durch ein Gebiet im Schnepfenbereich fließt. Wir wissen, dass die Flussnamenendung -ica damals als ikja mit einem weit vorne gesprochenen k-Laut gesagt worden ist. Wir gelangen auf solche Weise zu einer frühslawischen Aussprache Kljuunikja. Über diese sehr weitgehenden lautgeschichtlichen Dinge schreibe ich aus mehreren Gründen. Erst aus diesem altslawischen Kljunikja kann und muss im Althochdeutschen Gluniccha werden; so wurde unser Gleink vor einem Jahrtausend bestimmt auch genannt. Das ai in Gleink beruht gar nicht auf einem alten i, sondern auf einem alten, langen ü-Laut. Wir haben vergessen, dass ja auch das lange üü des Mittelhochdeutschen in unserem Dialekt zu ai geworden ist. Etwa ein mhd. hiuser (sprich hüüser) wird zwar in der Schriftsprache als Häuser geschrieben, im Dialekt aber als Haisa ausgesprochen. Genau genommen ist die amtliche Form Gleink also irgendwie unrichtig, sprachgeschichtlich genauer wäre die Schreibung Gläunk: Gleink folgt dem Dialekt und nicht der Sprachgeschichte. Unsere sprachgeschichtliche Korrektur aber, und darauf kam es uns hier an, verdanken wir der Urkundensprache.
Damit steht man vor einer merkwürdigen Tatsache. Es gibt in der Umgebung von Steyr auch Namen slawischer Herkunft. Es müssen also hier vor langer Zeit Slawen gewohnt haben. Mit diesen slawischen Namen werden wir uns noch später beschäftigen. Hier, wo es allein auf die Methode ankommt, ergibt sich aus dieser Tatsache eine vergrößerte, sehr schwere Anforderung an den sattelfesten Namenforscher. Er darf sich nicht nur mit den eingehenden Kenntnissen über die deutsche Sprachgeschichte begnügen, er muss, dieser neuen Tatsache Rechnung tragend, sich auch mit allen Sprachgesetzen des Slawischen vertraut machen. Der Fachmann würde sagen, er darf nicht allein Germanist, er muss auch Slawist sein. Wir werden aus den folgenden Zeilen erfahren, dass noch weitere Sprachvölker am Aufbau der oberösterreichischen Namengebung beteiligt gewesen waren. Dies waren in vorgeschichtlicher Zeit die Kelten, die Illyrer und die Veneter, ferner noch die Ur-Italiker. Diese Ur-Italiker waren jene uralte Völkerschaft, von der ein bestimmter Volksstamm, die Latiner, im Altertum die Stadt Rom gründete. Von Rom aus wieder wurde im späteren Altertum das gewaltige Römerreich erobert, das wir aus dem Geschichtsunterricht gut kennen. Zu diesem Römerreich, das von Nordafrika und Kleinasien angefangen über Griechenland durch ganz Südeuropa bis Spanien gereicht hatte, hat mit Norikum seit der Zeitenwende auch unsere Umgebung von Steyr durch vier Jahrhunderte gehört; zu einer Zeit, als sich aus dem Ur-Italischen längst eine neue Sprache, das Lateinische, entwickelt hatte. Folglich muss der Namenforscher in Oberösterreich über die Germanistik und Slawistik hinaus die Sprachgesetze des Illyrischen, des Keltischen, des Venetischen, des Ur-Italischen, aber auch des Lateinischen und dessen romanische Tochtersprachen ständig bei der Hand haben. Erst dann vermag er wirklich alle Namen unserer Gegend sicher zu erklären. Das ist eine gewaltige Wissensfülle.
Damit ist sein methodischer Weg noch immer nicht zu Ende. Gesetzt den Fall, es wäre ihm dank dieser Kenntnisse tatsächlich gelungen, alle Siedlungsnamen von Oberösterreich oder wenigstens in der Umgebung von Steyr nach menschlichem Ermessen richtig zu deuten, so fehlen immer noch zwei Leistungen, damit er seine Arbeit wirklich mit historischen Erkenntnissen krönen darf. Erstens gilt es noch, nachzuprüfen, ob die gewonnene Deutung bei jedem einzelnen Namen auch zum Boden und seiner Geschichte gefällig dazu passt. Diese Kontrolle nennen wir die Realprobe. Es haben sich ja die Namengeber selbst bei ihrer Schaffung neuer Ortsbezeichnungen immer auch etwas gedacht; die alten Namen sind nicht willkürlich erfunden worden, wie dies leider in unserer modernen, wenig bodenverpflichteten Zeit so gerne geschieht. Viele von uns sind bei ihren Namendeutungen immer noch von abgebrauchten romantischen und humanistischen Vorstellungen beherrscht. Nach ihnen soll die Deutung möglichst abenteuerlich ausfallen, sie soll, wenn nur irgendwie erdenkbar, von den beiden klassischen Sprachen, vom Lateinischen oder Altgriechischen, ausgehen und auch in diesen beiden Sprachen tunlichst ein lehrreiches Sinnbild ergeben. Das war nicht das Streben von derjenigen ersten Dauerbevölkerung, welche die Namen wirklich geschaffen hatte. Es ist eine feststehende Erfahrungstatsache, dass unsere österreichischen Ortsbezeichnungen aus älterer Zeit ausnahmslos sogenannte „echte“ Namen darstellen, das sind Namen, welche entweder auf die Lage des Ortes oder auf seinen Kulturzustand Bezug nehmen, oder welche ein Besitzverhältnis ausdrücken. Ein Besitzname ist beispielsweise Hargelsberg: der Ort liegt in der Mitte zwischen Steyr und Enns. Im zwölften Jahrhundert heißt es urkundlich Hoedigerisperg, das ist der Berg eines Mannes, der im Althochdeutschen Haduger geheißen hat. Unser Haduger hatte vor vielleicht einem Jahrtausend dort einen Berg, das ist genau genommen ein agrarmäßig brauchbares Nutzungsgebiet, besessen. Das Wort Berg wird nämlich in unserem Dialekt seit Alters her nicht nur für größere Bodenerhebungen, die es in Hargelsberg gar nicht gibt, sondern auch für jedes Stück wirtschaftlich verwertbares Land gebraucht, man denke etwa an den Ausdruck Weinberg: auch bei ihm geht es nicht um eine Bodenerhebung, sondern allein um jenes Nutzungsgebiet, auf dem Weinstöcke angepflanzt sind. Diese Deutungen beinhalten gewöhnlich reale Vorstellungen, die mit Symbolen und Abenteuern nichts zu tun haben. Gegeben haben sie richtige, bodenständige Bauern, Bauern, die sich für Lage, Bodennutzung und Besitz interessieren. So tragen unsere Namen alle einen schlichten, bäuerlichen Sinn, sie haben nichts von jenen Großartigkeiten an sich, die man ihnen oft so gerne unterschieben möchte. Ergäbe sich aber tatsächlich irgendwo eine boden- und besitzfremde Bedeutung, so müsste man sehr genau vorgehen, denn dann erhebt sich der Verdacht, dass die Deutung nicht stimmt. Es war bei der ersten Namengebung so, dass sich ein Namensinn, der auf die bäuerliche Bevölkerung nicht von Anfang an überzeugend gewirkt hätte, überhaupt nicht hätte durchsetzen können und er sofort durch einen anderen Ausdruck ersetzt worden wäre. Dieser Umstand versetzt uns heute oft in die glückliche Lage, an Ort und Stelle nachprüfen zu können, ob die Deutung auch wirklich sinngemäß ist und ob solchermaßen die Realprobe stimmt. Der Name der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz geht auf ein keltisches Lentia zurück, das ist der Lindenhain, denn keltisch lenta ist die Linde. Die alten Floraverhältnisse auf dem Boden von Linz sind durch die Ausweitung der Stadtverbauung längst zu weit vernichtet, als dass es von diesem alten, vorgeschichtlichen Lindenhain auch nur eine letzte Spur gäbe. Hier müssen wir den namenkundlichen Hinweis kurzerhand glauben, wir können ihn nicht nachprüfen. Die Bedeutung „Lindenhain“ fügt sich so gut in die Welt echter Namengebung ein, dass wir gar keinen sachlichen Grund sehen, an ihrer Zuverlässigkeit zu zweifeln, nachdem die lautlichen Gegebenheiten alle stimmen. Auch heute noch heißen viele Orte in Oberösterreich Lind, Lindach, Lindau, Linnet usw., das ist der Lindenhain, mit deutschen Sprachmitteln ausgedrückt.
Schließlich muss die Methode der Namenforschung als letztes noch eine mühevolle Arbeit leisten, bevor sie ihre Ergebnisse als Geschichtsquelle vertrauensvoll auswerten darf. Sie muss alle ihre Namen, sei es nach den verschiedensten Gruppen, sei es nach dem Alter der Entstehung, nach ihrem Grundwort oder ihrer Endung, sei es nach den Sprachen, aus welchen sie geschaffen worden sind usw., zusammenfassen und untersuchen, nach welchen gemeinsamen Gesichtspunkten sich jede einzelne Gruppe kennzeichnen lässt; sie muss aber auch kontrollieren, ob wirklich jedes Einzelglied in der bestimmten Gruppe diese neugewonnenen Kennzeichen vollauf rechtfertigt. In denjenigen Fällen, welche sich nicht einfügen wollen und die aus dem großen Rahmen irgendwie herausfallen, ist nochmals genauestens zu untersuchen, ob sie auch tatsächlich dieser Gruppe zugehören und ob ihre Deutung nicht vielleicht doch danebengreift. Dies nenne ich die Gruppenkontrolle.
Nach allen diesen Leistungen, nach dem Sammeln der amtlichen Formen, der Dialektdeutungen, der urkundlichen Formen, nach den sprachgeschichtlich einwandfreien Deutungen, nach deren Realproben und der Gruppenkontrolle ist endlich die ganze Arbeit getan; sie bedarf für ein ganzes Bundesland jahrelanger Forschungen. Dafür kann man auch ihre Ergebnisse, solange man systematisch vorgeht, mit ruhigem Gewissen als Fundament für früh- und vorgeschichtliche Schlussfolgerungen verwerten. Und diesen Schlussfolgerungen wollen wir uns nunmehr zuwenden. In diesem Sinne habe ich die Namengebung nicht allein der Landschaft um Steyr, sondern von ganz Oberösterreich durchgemustert, zu dem Zweck, darauf eine Art Siedlungsgeschichte von Oberösterreich im Licht der Namenkunde aufzubauen. Leider ist diese Untersuchung bisher wegen Zeitmangel im Rohmaterial stecken geblieben.
Nach diesen teils neuen Gesichtspunkten ist bisher weder die Namengebung von Oberösterreich noch die der Umgebung von Steyr untersucht worden. Nach anderen Methoden liegen bemerkenswerte Leistungen vor, allerdings nicht speziell für die Umgebung von Steyr. Sehr erleichtert wird die Arbeit durch das gute Sammelwerk von Konrad Schiffmann, dem verstorbenen Direktor der Studienbibliothek in Linz, genannt „Historisches Ortsnamenlexikon des Landes Oberösterreich“. Es ist die ideale Fundgrube für so gut wie alle erreichbaren Urkundenformen des Mittelalters der oberösterreichischen Siedlungsnamen. Nicht so gut gelungen sind bedauerlicherweise die Deutungen Schiffmanns und natürlich ebensowenig die historischen Folgerungen, die Schiffmann in seinem Buch „Das Land ob der Enns“ auf seinen mangelhaften Etymologien aufgebaut hat. Das untere Mühlviertel hat Ernst Schwarz erforscht in seinem Aufsatz „Die Ortsnamen im östlichen Oberösterreich“; der erste Teil ist erschienen in den „Heften für bayrische Volkskunde“, der zweite in den „Prager deutschen Studien“.
Damit kommen wir zur Vor- und Frühgeschichte im Licht der Namenkunde und zum eigentlichen Sinn und Zweck dieses Aufsatzes. Es besteht heute kein Zweifel mehr darüber, dass Steyr und das gesamte oberösterreichische Eisenland mit dem ganzen oberen Enns- und dem ganzen Steyrtal schon in prähistorischer Zeit bewohnt gewesen war. Stein- und bronzezeitliche Funde bezeugen dies schon vor dem Aufkommen des Eisens als Gerätematerial. Umso mehr ist dies während der vorgeschichtlichen Periode der Eisenzeit der Fall. Nach den Funden gemessen war damals Steyr mit seinem Umland schon ein ausgesprochenes Eisenland. Bis nach Steyr herunter hat man das berühmte norische Stahleisen, das am Erzberg, an der sogenannten Eisenwurzen, gleichsam wie Enzianwurzen schon im Tagebau gewonnen wurde, industriemäßig verarbeitet und verwertet. Die sogenannte Eisenstraße von Steyr ennsaufwärts über Hieflau zum Erzberg muss damals schon ein wichtiger Verkehrsweg gewesen sein, genauso wie im Mittelalter und in der Neuzeit und wie heute erst recht wieder; diesmal als Eisenbahn, die vom Erzberg hierher in die weltbekannten Steyr-Werke führt. Seit einem Jahrzehnt wird sie von der Parallelstraße über den Pyhrnpass nach Linz, wo seither die Vöest-Werke stehen, langsam in den Schatten gestellt. Eine alte Abzweigung der Ennstaler Eisenstraße führt von Weyer aus nach Waidhofen an der Ybbs, dem mittelalterlichen Konkurrenten von Steyr in der Eisenwarenerzeugung, also ins niederösterreichische Eisenland. Das oberösterreichische Eisenland besteht aus dem Steyr- und Ennstal, das niederösterreichische Eisenland aus dem Ybbstal, beide zehren von der Eisenwurzen mit ihrem Erzberg.
Aufgrund der uralten Besiedlung des oberösterreichischen Eisenlandes würde man natürlich erwarten, dass in der gesamten Umgebung von Steyr nicht allein eine ununterbrochene Siedlungskontinuität von der Urzeit bis zur Gegenwart bestünde, sondern dass in unserer Gegend natürlich auch überall prähistorische Ortsnamen illyrischen, keltischen, venetischen und ur-italischen Ursprungs auftauchen müssten. Sehen wir nun nach, wie das in Wirklichkeit ist. Ich lege eine Kartenskizze vor, in der alle wichtigen Gegebenheiten für ganz Oberösterreich eingetragen sind. Der Einfachheit halber fassen wir fernerhin alle Namen ur-italischen, illyrischen, venetischen und keltischen Ursprungs unter dem praktischen Sammelnamen „vorrömisches Namensgut“ zusammen. Unsere Skizze 1 zeigt mit einer dicken Borstenlinie, deren Borsten der leichteren Erkennbarkeit wegen nach innen gerichtet sind, diejenigen Gegenden Oberösterreichs an, in welchen tatsächlich vorrömische Namensbelege auftreten. Man sieht innerhalb zunächst die Herzlandschaft von Oberösterreich zwischen Steyr, Enns, Linz, Eferding und Wels. Ferner liegen innerhalb die ganze Donaustraße angefangen von Passau bis in den Strudengau, weiters die ganze Innstraße; schließlich die wichtige Straße von Salzburg durchs Vöcklatal ins Traunfeld. Salzburg und Passau waren uralte Kulturzentren und daher auch frühchristliche Bischofsitze. Nicht aber gibt es vorrömisches Namensgut an der Straße zu den uralten und durch ihre prähistorischen Funde weltberühmten Salzbergwerken von Hallstatt und Ischl, ebenso fehlt es wider Erwarten an unserer uralten Eisenstraße von Steyr zum Erzberg und an der Parallelstraße über den Pyhrn durchs Steyrtal. Alle diese Straßenzüge waren zur Römerzeit schon ausgebaut, was teils fundmäßig, teils durch andere Mittel erarbeitet worden ist. Hier gibt es aber keinen einzigen vorrömischen Namen. Das ist merkwürdig. Es wird uns indessen durch Analogiefälle sofort verständlicher. Auch in den östlichen Nachbarländern, in Steiermark und Kärnten, beobachten wir in höher gelegenen Tälern abseits der günstigeren Agrarlandschaft der Ebene dasselbe Fehlen vorrömischen Gutes in Landschaften, deren einstige Bewohnerschaft in vor- und frühgeschichtlicher Zeit einwandfrei erwiesen ist; so z. B. im steirischen Ennstal, im Kärntner Obermölltal und im Kanaltal in Italien, und besonders an alten Passstraßen, etwa an unserem Pyhrn, am Radstätter Tauern, am Mallnitzer Tauern, an der Glocknerstraße, am Semmering usw. Das hat seinen guten Grund. Es wurde durch die Unsicherheit während der Völkerwanderungszeit der Warenaustausch wegen der fortdauernden Plünderungsgefahr derart riskant, dass das Hinfahren ins Bergwerks- und Hochtal mit Ackerbauprodukten und das Zurückfahren mit Eisenerz, Salz und dergleichen unrentabel geworden war. Man stellte den Tauschverkehr in und über die Hochtäler ein, jenen Verkehr, den die abseitigen Alpendörfer, die unter Vollbetrieb ihrer Bergwerkssiedlungen in der Lebensmittelproduktion unmöglich autark bleiben konnten, brauchten; man hat diese Dörfer nicht mehr ausreichend mit Lebensmittel versorgt. Man baute aber auch in den Tälern selbst nicht mehr ernstlich auf Bergschätze, weil auch diese nicht mehr bis in die volkreichen Absatzgebiete geliefert werden konnten und vorher oft geraubt wurden. Aber auch jene Restbevölkerung der Alpendörfer, die das Hochtal selbst hätte ernähren können, zog offenbar nach klimatisch zusagenderen Gunstlandschaften ab, gelockt von den neuentstandenen Bevölkerungslücken durch Kriegsschädigungen in der Ebene, gelockt aber auch durch die leichteren Schutzmaßnahmen gegen fremde Überfälle, wie sie die volkreiche Ebene gegenüber der schwachen Bergeinsamkeit bot. Mit dem Verschwinden der alten Bevölkerung in den Hochtälern hörten natürlich auch die alten Namen auf; sie fielen der Vergessenheit anheim, es war niemand mehr da, der sie hätte überliefern können. Das also, die Unterbrechung der Bevölkerungskontinuität, ist die Ursache dafür, warum im oberen Ennstal von Steyr aufwärts und im Steyrtal die vorrömischen Namen trotz prähistorischer Bewohnerschaft radikal beseitigt erscheinen. Gewonnen haben mir die Erkenntnis einer vorübergehenden Entvölkerung der Neben- und Bergwerkstäler allein aus der Namenkunde. Wir sind, wie man später erfahren wird, sogar in der Lage, auf namenkundlichem Wege herauszubekommen, wann die Neubesiedlung dieser Nebentäler begann. In Tirol, wo sich die Stürme der Völkerwanderung nicht mehr arg ausgewirkt haben, bleiben an den Passstraßen und in den alten Knappentälern die vorrömischen Namen bestehen.
Übrig geblieben ist vorrömisches Gut nur zwischen Steyr und Donau als Teil der oberösterreichischen Herzlandschaft, und zwar in drei Flussnamen und in einem Siedlungsnamen. Dies ist die Bezeichnung für die zwei großen Flüsse Steyr und Enns und für einen kleinen Seitenbach der Donau, Ipf. Damit gelangen mir zum zweiten Mal zum Namen Steyr selbst. Leider ist man gerade bei ihm vorderhand noch nicht in der Lage, eine allgemein anerkannte Deutung zu geben; die Fachleute haben sich darüber, aus welcher Sprache Steyr stammt, noch nicht einigen können und noch weniger sind sie eines Sinnes darüber, was Steyr etymologisch bedeutet. Sicher ist immerhin zweierlei. Erstens, dass der Flussname zurückreicht bis in die vorgeschichtliche Zeit. Man ersieht das aus dem Umstand, dass in spätantiken Geschichtsquellen südlich von unserer Stadt ein offenbar keltischer Volksstamm die Bezeichnung Stiriaten geführt hatte, das heißt, genau genommen, so viel wie die Leute am Fluss Steyr, also die Steyrtaler. Überliefert ist allerdings nur der Ortsname Stiriate, den die Archäologen in der Gegend von Liezen suchen. Durch die Form Stiriate wird zweitens klar, dass der Fluss selbst in ältester Zeit Stiria geheißen haben muss, also nicht Stira, wie man vielleicht glauben könnte. Damit ist die kirchenlateinische Form Styria des Mittelalters und der Neuzeit vollauf gerechtfertigt. Sie muss uralt sein und knüpft auf uns unklaren Wegen an eine Form an, die schon im Altertum da gewesen war. Vermutlich hat sie sich gehalten in der kirchlichen Überlieferung der frühchristlichen Stadt Lorch, dem Lauriacum der Römerzeit. Lauriacum – Lorch ist der vierte vorrömische Name unserer Gegend; er ist mit keltischen Sprachmitteln gebildet worden, -akom ist eine keltische Ableitungsendung bei Siedlungsnamen und bedeutet ungefähr das gleiche wie unser Wort -dorf. Der Mann, der dieses Keltendorf besessen hatte, hieß Laurios; dies ist ein mehrfach bezeugter keltischer Eigenname. Lauriakom ist dann wörtlich genommen ein Lauriusdorf. Auch die Flussnamen Enns und Ipf stammen speziell aus dem Keltischen. Die Enns heißt im 8. Jahrhundert urkundlich Anisa; -isa, -usa ist eine keltisch-illyrische Flussnamenendung und kehrt z. B. wieder bei der benachbarten Ybbs, ahd. Ibusa; der Wortstamm anos ist gleichfalls keltisch und besagt das gleiche wie unser Wort Sumpf. Enns ist demnach der keltische Sumpffluss. Ipf wieder weist auf ein keltisches Epia zurück; epos ist das gleiche Wort wie lateinisch equus, also das Pferd, Epia ist dann der Roßbach. Er ist so tief, dass man bei Hochwasser gerade zu Pferd noch durchreiten kann.
Weil wir schon beim Namen Steyr sind, fragen wir: Hat auch die Siedlung Steyr, die an der Mündung des gleichnamigen Flusses in die Enns liegt, bereits zur Keltenzeit Stiria geheißen oder führte die Siedlung als solche damals einen anderen Namen? Bestimmtes wissen wir darüber nicht, mir können nur vermuten. Aus Grund der Seitenstücke in der Umgebung ist es unwahrscheinlich, dass man auch die Siedlung schon immer so benannt hat. Wohl sehen wir in der Nachbarschaft seit der Zeit der deutschen Landnahme allenthalben Flussbezeichnungen zu Siedlungsnamen werden; sie beziehen sich meistens auf Dörfer und Städte, die an der Mündung des Flusses liegen. Indessen haben noch zur Römerzeit gerade die wichtigsten unter diesen Siedlungen andere Bezeichnungen geführt als der Fluss. So hieß etwa zur Römerzeit, um nur zwei Beispiele zu nennen, unsere Bundeshauptstadt oder richtiger gesagt die dortige Keltensiedlung Vindobona, das ist wörtlich übersetzt wahrscheinlich das Besitztum des keltischen Mannes Vindos, der Weiße. Der jetzige Name Wien geht vom Fluss aus, von der Wien; er führt seinerseits zurück auf ein keltisches Vedunia, das ist der Waldbach; der Wienfluss selbst entspringt tatsächlich in einem großen, zusammenhängenden Waldgebiet, im Wiener Wald. Der heutige Name Salzburg ist zusammengeschrumpft aus einem älteren Salzachburg, das ist die Burg an der Salzach; zur Römerzeit aber hieß auch diese Siedlung anders, nämlich Juvavum. Es gibt noch mehrere solcher Fälle. Das gleiche war vielleicht auch bei der alten Keltensiedlung in Steyr der Fall gewesen. Wie sie dann tatsächlich genannt worden war, das wissen wir nicht; vielleicht findet sich dereinst in Lauriacum, wo jetzt eifrigst nach Römerfunden gegraben wird, eine Inschrift, die Aufklärung darüber gibt.
Zur Zeit der bairischen Landnahme wurden an den Flussmündungen größere befestigte Siedlungen zu Verteidigungszwecken angelegt. So wurde Enns demgemäß in althochdeutscher Zeit Enisaburg genannt, und auch unser Steyr hieß in seiner ersten Nennung Stirapurg des 10. Jahrhunderts, also Steierburg, die Burg an der Steyr. Im Namen Salzburg ist dieses Grundwort -burg bis heute beibehalten. Die Kurzform Stira kam erst im Hochmittelalter auf.
Und nun fassen wir die Römerzeit namenkundlich ins Auge. Wir wissen aus zahlreichen Ausgrabungen von einer gewaltigen Kulturentfaltung der römischen Kaisermacht in den spätantiken Städten, also während der Zeit, als das Land Norikum einen Teil des Römischen Imperiums gebildet hatte. Viele Soldaten lagen in der Grenzstadt Lauriacum gegen die kriegerischen Markomannen in Garnison, der heilige Florianus war ein solcher römischer Legionär, der wegen seines Bekenntnisses zum Christentum der glaubwürdigen Legende nach in die Enns geworfen wurde und als Märtyrer ertrank. Auch einen ansehnlichen Beamtenstab gab es, daneben geschäftstüchtige Kaufleute und Händler und wichtige Repräsentationsgebäude von Staat und Stadt. Nicht anders sah es in Linz, Passau und Wels und in den Römerstädten des nachherigen Niederösterreich entlang der Donau aus. Es scheint indessen, als hätte sich in unseren Landstrichen die römische Kulturleistung allein auf diese Städte beschränkt und höchstens noch auf ihre Sommersitze und ihre Straßenverbindungen, als wäre sie jedoch am Aufbau der ländlichen Agrarpflege unbeteiligt gewesen; sie beschäftigte sich höchstens insoweit mit dem offenen Land, als sie bei den Bauern große Steuern einhob und die Bauerssöhne zum Legionärsdienst einberief, und das war herzlich wenig. Vielleicht waren die norischen Bauern dieser Lasten wegen sogar froh, als später das Römerreich zugrunde ging. Allerdings wohl nur zuerst. Als ihre Höfe dann von Raubscharen geplündert wurden und die Menschen selbst zu schwerem Schaden kamen, wird ihnen wohl der Irrtum in ihrem gesinnungsmäßigen Staatsverrat klargeworden sein; aber dann war es zu spät. Es lässt sich zeigen, dass nicht nur im größten Teil von Oberösterreich, sondern von ganz Österreich zur Römerzeit keine einzige Bauernsiedlung neu benannt worden und wohl auch keine Bauernsiedlung gegründet worden ist. Der Versuch K. Schiffmanns, zahlreiche Dorfnamen Oberösterreichs aus dem Lateinischen und Romanischen abzuleiten, hat sich ausnahmslos als unhaltbar erwiesen, seine Rekonstruktion der alten Römerstraßen mit solchen angeblich lateinischen Dorfnamen ist längst unter der scharfen Lupe der Sprachgeschichte in nichts zerflossen.
Unsere auf Skizze 1 von Salzburg ins oberösterreichische Vöcklatal hereinstoßende schwarze Borstenlinie deutet an, wie weit wirklich romanisches Namensgut nach Oberösterreich übergreift, also solches, das sicher oder höchstwahrscheinlich auf einstige Romanen hinweist; die gleiche Borstenlinie taucht bei Passau wieder auf. Diese Stadt führt ihre Bezeichnung nach einer batavischen, d. h. niederländisch Legion und hieß lateinisch castra Batava. Wenn wir etwas großzügig Passau durch eine gerade Linie mit Villach verbinden, so gibt es östlich der Linie kein einziges namenkundliches Zeugnis für Gründungen von Neusiedlungen zur Römerzeit. Erst westlich dieser Geraden tauchen Namen lateinischen and romanischen Ursprungs auf. Steyr liegt trotz der Nähe der alten Römerstädte Lauriacum, Lentia und Ovilava weit außerhalb dieser einstmals halb oder ganz romanisierten Zone. Andere namenkundliche Tatsachen lassen vielmehr mit Sicherheit auf die Erhaltung der keltischen und illyrischen Sprache bis zur Zeit der deutschen Landnahme schließen. Es müssen die Kelten und Illyrer noch direkt mit den neueinwandernden Bayern in Kontakt getreten sein. Manche keltische und illyrische Ortsnamen haben nachweisbar die Bayern noch dem Sinne nach verstanden und ins Deutsche übersetzt.
Nach dem Zusammenbruch des Römerreiches folgte für Oberösterreich eine wilde Zeit kurzlebiger und sich gegenseitig rasch ablösender Gründungen germanischer Königreiche. Es ist Zufall, wenn aus dieser Zeit im Lande keine sicheren Spuren germanischer Namengebung zurückgeblieben sind; doch ist es wahrscheinlich, dass diese Germanenstämme im Westen des Bundeslandes einige Flussnamen hinterlassen haben, etwa Vöckla, das ist die Ache eines Veckilo, und Rodel, ahd. Rotula, das ist die kleine Rote. Wahrscheinlich haben sie damals ihre deutschen Namen bekommen.
Im fünften oder sechsten Jahrhundert geschah dann ein folgenschweres Ereignis für die gesamte Geschichte des Landes bis zur Gegenwart. Die alten Markomannen, die in ihrem böhmisch-mährischen Becken, einem idealen Bauernland, von Ungarn und unserem Donaugebiet her fortwährend durch germanische Fürsten und ihre Heere in ihrer Freiheit bedroht worden und zeitenweise tatsächlich unter gotische, unter herulische und langobardische Botmäßigkeit geraten waren, wurden der fortwährenden Kämpfe um ihre fruchtbaren Felder endlich müde und wanderten aus. Wohin sie zunächst gezogen sind, bleibt strittig. Dass sie sich schließlich in einem ähnlich fruchtbaren, aber leichter zu verteidigenden Bauernland niederlassen wollten, liegt auf der Hand. Da ihnen Ungarn, wo damals zuerst die Langobarden und nach deren Abzug nach Italien die Awaren mit ihren slawischen Untertanen hausten, wegen seines damaligen Sumpfklimas ganz bestimmt nicht verlockend vorkam und die heutige Slowakei mit ihrem kargen Steinboden schon gar nicht zusagte, wandten sie sich ganz von selbst in die fruchtbaren Länder von Altbayern und ins Herzland von Oberösterreich. In Ungarn und in der Slowakei wären sie alles eher als in friedliche Gebiete gekommen, sie wären in einen richtigen Hexenkessel von kriegerischen Auseinandersetzungen hineingeraten. Damit begann bei uns die bayrische und deutsche Landnahme. Daher ist Oberösterreich dasjenige Bundesland unseres Staates, in welchem der altertümlichste deutsche Ortsnamentypus am häufigsten vorkommt, weil hier die deutsche Ansiedlung am frühesten durchgeführt worden ist. Das sind die sogenannten echten -ing-Namen. Nicht weniger als vier Prozent aller Ortsnamen sind in Oberösterreich mit dieser althochdeutschen Endung -ing gebildet, kein anderes Bundesland besitzt auch nur annähernd so viel echte -ing-Namen. Der Gelehrtenstreit darüber, was denn eigentlich dieses -ing genau bedeutet, berührt uns hier nicht. Die -ing-Formen sind vorwiegend von Personennamen abgeleitet, sie sind also Besitznamen und lassen eine wohlgeordnete Landesaufteilung unter den Einwanderern annehmen. Zahlreiche uralte Personennamen stecken in ihnen, viele sind darunter, die es in der Urkundenzeit des 8. Jahrhunderts gar nicht mehr gibt. Über diese echten -ing-Namen insbesondere in Oberösterreich und darüber hinaus hat vor zwei Jahren Frau Dr. Irmtraud Kouril eine umfassende Wiener Dissertation versaht. Sie stellte fest, dass sich in Oberösterreich die echten -ing-Namen meistens über den Bereich des fruchtbarsten Ackerbodens und über dessen angrenzendes Vorgelände ausbreiten, dass es sich also zweifellos um ein ausgesprochenes Bauerntum bei diesen eindringenden Baiern gehandelt hat. Zwischen Steyr und Enns liegen elf solche echte -ing-Namen. Es sind dies Allhaming, das ist die Siedlung des althochdeutschen Adalhelm; Enzing, die Siedlung des Enzo; Erlafing, die Siedlung des Arilolf, Gamering, die Siedlung des Goumarich; Gerling, im 11. Jahrhundert Gerlantingen, also die Siedlung des Gerlant; Gomering, die Siedlung des Gomarich; Gottschalling, die Siedlung des Gottschalch; Pfaffing, die Siedlung, die einem Pfaffen und damit einem Geistlichen zustand; Sieding, im 13. Jahrhundert Sigreting, die Siedlung des Sigrat; Tödling, die Siedlung des Todilo, und Weitling, im 11. Jahrhundert Waelhelingen geschrieben, das ist die Siedlung des Walhilo. Etliche unter ihnen haben ein altertümliches Gepräge. Zwar dauert in seltenen Fällen die Ableitungsmöglichkeit mit unserer Endung -ing bei neuen Bildungen bis gegen 1100, sodass die jüngsten echten -ing-Namen erst im 11. Jahrhundert gebildet worden sein könnten, indessen führt schon die Dichte der Belege auf älteren Ursprung hin. Wir werden am Schluss dieses Aufsatzes den Beweis dafür antreten können, dass die deutsche Kolonisation in der Umgebung von Steyr spätestens im 8. Jahrhundert begonnen hat und dass sich ferner um Steyr herum wahrscheinlich diese echten -ing-Namen im 9. Jahrhundert nicht mehr neu haben bilden können. Die Verbreitung dieses Namenstypus auf oberösterreichischem Boden führt die Skizze 2 vor Augen. Erinnern wir uns an die Darstellung der Umgrenzung des vorrömischen Namengutes, Skizze 1, dann fällt auf, dass sich die echten -ing-Namen im Zusammenhang mit dem besten Ackerboden viel weiter ausdehnen als das vorrömische Namensgut, das sich seinerseits einengt auf die alten Straßenzüge und die Herzlandschaft Linz-Enns-Steyr-Wels-Eferding. Besonders im Inn- und Hausruckviertel gibt es in vielen Landstrichen schon echte -ing-Namen, aber noch keine vorrömischen Ortsbezeichnungen. Umgekehrt scheint den Baiern an Verkehrsmöglichkeiten nach außen weniger gelegen gewesen zu sein als an einer ausgiebigen Getreideernte. Die Straßen nach Passau und Salzburg, den alten kirchlichen Zentren, sind auf der Kartenskizze der -ing-Namen unterbrochen, auf der Skizze der vorrömischen Namen nicht. Auch daraus könnten wir wichtige Schlüsse ziehen, würde uns nicht die Zeit drängen.
Die meisten Geschichtsforscher vermuten, dass die bairische Landnahme in Altbayern und Oberösterreich im fünften oder sechsten Jahrhundert begonnen hat. Einige sind dagegen der Ansicht, dass sie auf oberösterreichischem Bereich erst später, vielleicht gar erst im 8. Jahrhundert, einsetzte. Kann die Namenforschung eine Entscheidung darüber fällen oder kann sie das nicht? Sie kann das exakt im Sinne der älteren Datierung. Wie sie das zustande bringt, zeigt das Folgende. In unserem Land haben wir entlang der Donaustraße etliche vorrömische Ortsbezeichnungen, welche noch die sogenannte hochdeutsche Lautverschiebung mitgemacht haben. Dies ist z. B. schon bei Passau jenseits der Staatsgrenze aus dem lateinischen Batava der Fall, t ist Au ss verwandelt worden. Das gleiche Verhältnis zwischen t und ss bemerkt man z. B. beim Vergleich des englischen to eat und seinem t mit unserem essen und seinem ss; es liegt ein Lautgesetz vor, altes t ist zu ss verändert worden. Das ist schon ein Teilstück der hochdeutschen Lautverschiebung. Die Germanisten sind sich darüber einig, dass sich diese Lautverschiebung von t zu ss oder auch zu ts, von p zu ff oder pf, von k zu ch ober kch, ungefähr um 700 abgespielt hat, vielleicht auch um ein bis zwei Jahrzehnte vorher. Fänden wir nun entlang der Donaustraße mehrere vorrömische Namen, welche tatsächlich die Lautverschiebung durchgemacht hatten, so müssten natürlicher Weise diese Namen selbst auch schon vorher in unserer Sprache und selbstverständlich in ihrer Gegend vorher schon bairische Siedler ansässig gewesen sein. Besonders bei weniger wichtigen Örtlichkeiten müsste dies der Fall sein. Tatsächlich beginnt der Reigen der bairischen Kolonisation in diesem Sinne schon bei Passau und hört erst unten an der Staatsgrenze gegen die Slowakei wieder auf. In der Nähe von Steyr gehören dazu der Siedlungsname Linz aus dem keltischen Lentia mit seinem tz aus älterem t, der Siedlungsname Lorch aus Lauriakom mit seinem ch aus älterem k, ferner der Name des bedeutungslosen Flusses Ipf aus kelt. Epia mit seinem pf aus älterem p, lauter Fälle, die wir schon kennen. In Niederösterreich gehören z. B. dazu die Flussnamen Erlauf (älter Erlauf) aus Eralapa, Kamp (sprich Khamp mit Kh) aus kelt. Kambos, d. i. der Gekrümmte. Es haben also an der Donau die Baiern spätestens im 7. Jahrhundert wirklich schon gewohnt.
Untersuchen wir gleich, ob auch Namen slawischen Ursprungs diese hochdeutsche Lautverschiebung mitgemacht haben oder ob diese hier nicht mehr gilt. Träfe es zu, dann müssten auch die Slawen schon im 7. Jahrhundert im Lande sesshaft gewesen sein, träfe es nicht zu, dann wären sie erst im 8. Jahrhundert ins Land gekommen. Sie wären dann erst nach den Bayern eingewandert. Trotz aller Bemühungen der Fachleute lässt sich unter den zahlreichen Namen slawischer Herkunft in Ober- und Niederösterreich nicht ein einziger auffinden, der wirklich lautverschoben wäre. Es müsste dann beispielsweise der Name des niederösterreichischen Ortes Palt an der Donau, dem ein frühslawisches Balsa und ein slowenisches blato, das ist der Sumpf, entspräche, Palz heißen, die oberösterreichische Palten (bei Leonstein) und der gleichnamige steirische Fluss, die gleichfalls auf dieses balta hinweisen und Sumpfbäche sind, eigentlich Palzen, die niederösterreichischen Flüsse und Siedlungen Melk und Mödling, die mit ihren ahd. Formen Mediliccha des 9. Jahrhunderts auf altslow. Medjidlica und slowen. Mejilica, d. i der Bach an der Grenzstätte, hinweisen, müssten Mittling heißen, der Fluss und Wiener Bezirk Döbling, ahd. Toplicche, das ist slow. Toplica, träte uns jetzt als Zapfling entgegen usw. Daraus folgt mit unerschütterlicher Logik: Die Baiern waren bereits vor 700 an der Donau sesshaft, die Slawen aber erst nach den Baiern, nach 700, in Nieder- und Oberösterreich eingewandert! Es mögen gegen diesen Befund misstrauische Kritiker einwenden, wie viel sie wollen, er ist und bleibt richtig, mag er sich auch gegen eine lieb gewordene Gewohnheit stellen. Bisher hat man die Slaweneinwanderung in den österreichischen Donauländern um ein volles Jahrhundert früher, um 600, angesetzt, ohne allerdings festes Beweismaterial dafür zu haben. Man tat dies, weil die Slawen in den österreichischen Alpenländern, in Steiermark und Kärnten, nach historisch einwandfreien Daten wirklich damals schon da waren und sogar schon um 590 am Toblacherfeld auftauchten. Aber was südlich des Kalkalpenzuges gilt, muss nicht fürs Donaugebiet zutreffen. Die alte Datierung kann nach unserem Befund unmöglich richtig sein, die Slawen sind an die Donau wie gesagt erst um ein volles Jahrhundert später gekommen. Sie waren, und darauf kommt es uns jetzt an, tatsächlich später da als die Baiern.
Wir kennen uns dank urkundlicher Schreibungen in der slawischen und dank eingehender germanistischer Forschungen in der deutschen Lautgeschichte auf österreichischem Boden gut aus. Die Entstehung der einzelnen Lautgesetze können wir nicht nur auf das Jahrhundert, sondern Manchesmal auf ein bis zwei Jahrzehnts genau datieren. Diese Datierungen sind Meisterstücke der Linguistik, die allerdings in unserem Zusammenhang nicht mehr zu erörtern sind. Nun haben sich glücklicherweise in beiden Nachbarsprachen kurz hintereinander im 8. und 9. Jahrhundert so viele Lautgesetze abgespielt, dass wir mit ihrer Hilfe bei den Lehnwörtern und Ortsnamen die Zeit der Übernahme ins Deutsche wirklich oft auf Jahrzehnte genau bestimmen können. Ließen sich die Namen mit zeitlich verschiedenen Entlehnungen auch im Raum verschieden anordnen, dann wäre es uns möglich, aus der Gliederung im Raum umgekehrt das stufenweise Vordringen der Kolonisation herauszulesen. Auch das gelingt der Namenforschung, ja das ist vielleicht die größte Leistung, welche die Namenkunde für den Historiker aufzubieten imstande ist. Denn diese Datierungen lassen sich auch über die folgenden Jahrhunderte in Zeit und Raum staffeln. Bevor wir auf sie eingehen, wollen wir zum besseren Verständnis noch rasch zwei andere wesentliche Probleme lösen. Erstens: Wie weit sind die Slawen überhaupt in Oberösterreich vorgedrungen; zweitens: Kamen diese Slawen wirklich überall später hin als die Baiern oder gilt diese Feststellung nur für die Donaustraße und sieht dieses Verhältnis abseits der Hauptverkehrsader wieder anders aus?
Die erste Frage lässt sich leicht beantworten. Wir brauchen nur nachzusehen, wie weit in Oberösterreich Namen slawischer Herkunft reichen und den Bereich dann abgrenzen.
Die Skizze 1, auf die wir jetzt wieder zurückgreifen, tut dies mit einer schwarzen Borstenlinie. Diese Linie ist interessant genug. Im Mühlviertel reichen die Ortsbezeichnungen slawischen Ursprungs von Norden her annähernd bis zum Steilabbruch der Mühlviertler Höhenplatte gegen die Donau nach Süden, sie erreichen nirgends das Stromufer selbst. Im Süden meidet der Slawenbereich überdies den Traunlauf, so lange dieser Fluss die Ebene durchzieht. Erst im Salzkammergut, nämlich im Ischler Becken, also im Gebirge, tauchen slawische Namen auch an der Traun auf. Das Merkwürdige ist also dabei, dass die ganze oberösterreichische Donaustraße bis Enns und der Lauf der Traun durch die fruchtbare Ebene frei bleiben von slawischem Namensgut und daher auch zu allen Zeiten frei geblieben ist von slawischen Ansiedlungen. Das Bild der Verbreitung slawischer Ortsbezeichnungen gleicht einem Keil, der sich an Donau und Traun sehr weit nach Osten vorschiebt tief im Gebiet slawischer Nomenklatur; dies sieht man auf unserer Skizze sehr schön. Wir werden uns bei der Auslegung dieses Keiles kaum täuschen, wenn wir annehmen, die Baiern haben die Slawen daran gehindert, die Herzlandschaft von Oberösterreich zu besetzen.
Die Beantwortung der zweiten Frage ist historisch nicht viel weniger aufschlussreich. Man kann nämlich im Lichte der Namenforschung feststellen, dass zwar wohl an der Donau und vielleicht teilweise noch um Steyr die Baiern früher da gewesen waren als die Slawen, man bemerkt aber auch, dass die Slawen ins Steyrtal und ins Ennstal oberhalb Steyr sowie in allen weiteren abseitigeren Landschaften unseres Bundeslandes gleichzeitig mit den Baiern eingewandert sind. Es hat sich eine Vermengung beider Völker herausgebildet, fern von allen Nationalitätsproblemen etwa im Sinne des 19. Jahrhunderts. Den Beweis dafür hier anzutreten würde allerdings zu weit in Einzelheiten führen. Wir dürfen ruhig behaupten, dass die siedlungsmäßige Neuerschließung des Steyr- und des oberen Ennstales eine gemeinsame Kulturleistung von Baiern und von Slawen war; Neuerschließung deshalb, weil wir ja bereits erfahren haben, dass diese beiden Täler nach Fundausweisen in vorgeschichtlicher Zeit schon einmal bewohnt gewesen, aber nach den namenkundlichen Gegebenheiten zur Zeit der Völkerwanderung wieder siedlungsleer geworden waren.
Damit wenden wir uns wieder mit der letzten historisch interessanten, von den Historikern offengelassener Frage an die Namenforschung: Können wir sagen, wann im einzelnen diese Neuerschließung vor sich gegangen ist? Sogar das sind wir imstande, nur halte ich mich dabei möglichst kurz. Hier kommen uns die erwähnten Altersdatierungen in ihrer Raumstaffelung zu Hilfe. In ganz Oberösterreich gibt es keinen einzigen Namen slawischen Ursprungs, der vor 750 in unsere Sprache entlehnt worden wäre, auch im Ausstrahlungsbereich der Donau nicht. Wohl aber entdeckten wir Entlehnungen, die noch im Lauf der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts eingedeutscht worden waren. Den Wandel von voralthochdeutsch d zu althochdeutsch t, der um 750 spielt, hat kein oberösterreichischer Beleg. Wir finden aber um Steyr Namen, welche deutscherseits den Wandel von frühhochdeutsch b zu althochdeutsch p, der um 770 vor sich ging, mitgemacht haben und andere Belege, welche die slawischen Veränderungen von urslawischem al zu altslowenischem la (balta zu blato) und von urslawischem a zu altslowenischem o noch nicht erlebt hatten, das sind Wandlungen, die ungefähr seit 800 im Alpen- und Donauslawischen da sind. Diese Namen sind vor 800 entlehnt worden. So finden wir um Steyr: Sarning, urkundlich im 10. Jahrhundert Sapinihca aus urslaw. Zabinica, slowen. Zabnica der Krötenbach; Großraming, urkundlich ahd. Rubiniccha, Rup aus urslaw. Rubinica, slowen. Ribnica der Fischbach (vgl. riba — Fisch); Garsten aus urslaw. Gariscina, slowen. Gorscina die Berg- oder Waldlandschaft. 15 Kilometer südlich von Steyr entdeckt man die letzten Belege gleichen Alters, es sind die zwei Ramingbäche; sie sind gleichen Ursprungs wie unser Großraming. Zwei Gehstunden flussaufwärts stoßen wir auf Kleinreifling als jüngere Lehnform des slawischen Stammes riba der Fisch, nämlich aus slowen. Ribnice, das Fischbachdorf. Damit hören an der Enns diese alten Lehnformen des 8. Jahrhunderts bis übers Gesäuse hinauf endgültig auf. Erst um Admont beginnen sie wieder. Eine zweite Straße für den Eisentransport führt die Steyr aufwärts bis zum Pyhrnpass. Hier ist die ganze Strecke bis zur Landesgrenze von Entlehnungen der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts begleitet. So gehören hierher die Palten bei Leonstein aus urslaw. Balta der Sumpfbach, Windischgarsten gleichen Ursprungs wie unser Garsten und der Pyhrn als Passhöhe, ahd. Pirdino, slowen. Brden, d. i. die Gegend am Bergeck. Man ersieht daraus die ältere Besiedlung des Steyrtales gegenüber dem oberen Ennstal. Während der unruhigen Awarenzeit des 8. Jahrhunderts im Osten hat man offenbar die Eisenlieferungen möglichst nach Westen verlegt, also an die Straße entlang der Steyr, die sicherer erschien, als die exponierte Ennstalstraße.
Wenn ich noch eines dazu bemerken darf, so ist es das: Trotz dieser alten Kolonisation fehlen im Steyrtal die echten -ing-Namen. Dies erweckt den Anschein, als wären in der Umgebung von Steyr, ja vielleicht weit hinaus auf oberösterreichischem Boden, die echten -ing-Namen schon im Laufe des 8. Jahrhunderts als Neubildungen abgekommen. Ist das richtig, so dürfen wir diese echten -ing-Belege zwischen Steyr und Enns spätestens ins 8. Jahrhundert zurückdatieren. Sie, wie vor allem die eben erwähnten uralten Eindeutschungen des 8. Jahrhunderts um Steyr, werden zum Zeugnis für die bairische Landnahme der Steyrer Umgebung schon im 8. Jahrhundert und nicht erst im 11. Jahrhundert, wie wir das früher festgestellt hatten.
Wir haben aus allen diesen namenkundlichen Untersuchungen viel Neues über die Geschichte unserer Heimat erfahren. Wir wissen jetzt aus dem Fundgut und aus dem Namensgut, dass Steyr selbst und das Land von Steyr nordwärts seit vorgeschichtlicher Zeit bis zur Gegenwart ununterbrochen bewohnt geblieben ist, wissen des Weiteren, dass südlich von Steyr das Enns- und Steyrtal nach Funden wohl auch vorgeschichtlich besiedelt gewesen war, dass aber zur Völkerwanderungszeit die Dauersiedlungen verschwunden sind und dass an der Pyhrnstraße erst im 8. Jahrhundert, an der Ennstaler Eisenstraße noch später neu kolonisiert worden ist. Erfahren haben wir weiters, dass die Römer außerhalb der Städte am kulturellen Landesausbau unbeteiligt geblieben sind und dass die alten Illyrer und Kelten sogar noch vorhanden waren, als sich die ersten Baiern niederließen. Ferner haben wir im Licht der Namenkunde erkannt, dass sich die Baiern entlang der Donau früher und spätestens im 7. Jahrhundert, sich die Slawen aber erst nachher, im 8. Jahrhundert, festgesetzt haben; dass jedoch abseits der Donaustraße beide Sprachvölker gemeinsam kolonisiert haben. Wichtig erschien uns schließlich die namenkundliche Feststellung, dass die Baiern die Niederlassung von Slawen in der Herzlandschaft von Oberösterreich, zwischen Donau und Traun, planmäßig aufgehalten haben dürften.
Das ist eine ganze Reihe teilweise recht wichtiger neuer Erkenntnisse für die Geschichte von Steyr und des Eisenlandes, sodass es sich verlohnt hat, sich damit eingehend zu beschäftigen.
Skizze 1. Dicke Borstenlinie: Im Osten slawische Namen, im Westen
romanische Namen; dünne Borstenlinie: Vorrömische Namen.
Skizze 2. Schwarze Borstenlinie: Echte „-ing“-Namen.
Aus den Veröffentlichungen des Kulturamtes der Stadt Steyr, März 1953